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Wildwood

Wildwood

Titel: Wildwood
Autoren: Colin Meloy
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brauchte ein Weilchen, bis sie ihre Atmung unter Kontrolle hatte. Der Regen prasselte leise an ihre Fensterscheibe. Prue hob den Kopf und sah sich in ihrem Zimmer um. Unten konnte sie hören, wie ihr Vater die Haustür hinter sich zuschlug und ins Wohnzimmer ging. Gedämpftes Murmeln ihrer Eltern folgte, und Prue rollte sich aus dem Bett und machte sich an die Vorbereitungen für das morgige Abenteuer.
    Sie zog ihre Umhängetasche unter dem Schreibtisch hervor, drehte sie um und kippte alles darin auf den Boden: das Biologiebuch, einen Spiralblock, eine Handvoll Kulis. Stattdessen wanderten die Taschenlampe, die sie unter dem Bett aufbewahrte, und das
Schweizer Armeemesser hinein, das sie von ihrem Vater zum zwölften Geburtstag bekommen hatte. Einen Moment lang stand sie mitten im Zimmer und kaute auf einem Fingernagel. Was brauchte man denn sonst noch alles für die Rettung seines kleinen Bruders aus einer undurchdringlichen Wildnis? Proviant würde sie sich morgen früh aus der Speisekammer holen. Im Augenblick konnte sie also nur noch abwarten. Sie ließ sich wieder aufs Bett plumpsen, zog das Vogelbuch aus ihrer Jacke und versuchte, die aufgewühlten Gedanken abzuschütteln, die ihr durch den Kopf rasten.
    Nach etwa einer Stunde hörte sie ihre Eltern die Treppe hochkommen, und ihr Herz begann wieder zu hämmern. Ein Klopfen ertönte an ihrer Tür.
    »Mhm?« Sie bemühte sich erneut um einen möglichst lockeren Tonfall. Aber sie hatte keine Ahnung, wie lange sie das noch durchhalten würde. Dieses ganze So-tun-als-ob war ganz schön anstrengend.
    Prues Vater öffnete die Tür einen Spalt. »Gute Nacht, meine Süße.« Und ihre Mutter ergänzte: »Bleib nicht zu lange auf.«
    »Ist gut«, sagte Prue. Sie drehte sich lächelnd zu den beiden um, und die Tür wurde wieder geschlossen.
    Doch dann hörte sie, wie sich die Schritte ihrer Eltern auf dem Holzfußboden dem Zimmer ihres Bruders näherten. Prue runzelte die Stirn. Macs Tür knarrte. In Prues Ohren klang es wie ein Donnerschlag, und ihr stockte der Atem. Fieberhaft dachte sie nach und
sprang aus dem Bett. »Hey, Mama? Paps?«, flüsterte sie laut durch ihre halb geöffnete Tür.
    »Was denn?«, fragte ihr Vater, die Hand auf der Klinke. Der Schein von Macs Nachtlicht fiel in den Flur.
    »Ich glaube, der Kleine ist echt fix und fertig. Vielleicht weckt ihr ihn besser gar nicht?«

    Ihre Mutter lächelte und nickte. »Alles klar.« Sie steckte den Kopf in Macs Zimmer und sagte leise: »Gute Nacht, Macky.«
    »Träum was Schönes«, ergänzte ihr Vater.
    Die Tür wurde quietschend zugezogen, und Prue lächelte ihre Eltern an, als sie an ihr vorbei ins Schlafzimmer gingen. Endlich waren sie verschwunden. Prue ging zurück ins Bett und atmete geräuschvoll aus.
    In jener Nacht schlief Prue unruhig. Unablässig träumte sie von riesigen Vogelschwärmen – Uhus, Adler, Raben – mit schillerndem Gefieder, die vom Himmel herabstießen und ihren Vater und ihre Mutter forttrugen und Prue ganz allein in dem leeren Haus zurückließen. Sie hatte den Wecker auf fünf gestellt, aber als er schließlich klingelte, lag sie schon eine ganze Zeit lang wach. Vorsichtig stieg sie aus dem Bett, um nicht zu viel Lärm zu machen. Im Haus war es still. Die Welt draußen war noch dunkel, die Stadt lag im Schlummer. Die einzigen Geräusche, die zu hören waren, kamen von den hin und wieder am Haus vorbeizischenden Autos. Prue schlüpfte in ihre Jeans und einen Pulli. Dann nahm sie die Jacke, die noch vom Vorabend über dem Schreibtischstuhl hing, und wickelte sich noch einen Schal um den Hals. Zum Schluss zwängte sie sich in ihre schwarzen Turnschuhe und tapste in den Flur hinaus. Sie legte ein Ohr an die Schlafzimmertür ihrer Eltern und lauschte dem sägenden Schnarchen ihres Vaters. Ihre Eltern schliefen noch tief und fest. Es würde noch ungefähr eine Stunde dauern, bis sie aufstanden, also hatte
Prue reichlich Zeit für ihre Flucht. Sie ging ins Zimmer ihres Bruders, holte das Stofftier aus dem Bett und zerwühlte die Decken; aus Macs roter Kommode suchte sie ein paar warme Sachen zusammen und steckte sie in ihre Umhängetasche. Nachdem sie auf Zehenspitzen die Treppe hinuntergeschlichen war, schrieb sie eilig eine Nachricht auf die Tafel neben dem Kühlschrank:
    Mama, Paps:
Mac war früh wach. Hatte Lust auf Abenteuer.
Sind bald zurück!
Alles Liebe, Prue
    In der Speisekammer grübelte sie, was sich als Proviant wohl am besten eignete, und entschied sich dann neben einer
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