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Wiedersehen mit Mrs. Oliver

Wiedersehen mit Mrs. Oliver

Titel: Wiedersehen mit Mrs. Oliver
Autoren: Agatha Christie
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zurückzuholen.«
    »Vielleicht könnte man ihn dazu überreden.«
    »Überreden? Sie haben also keine stichhaltigen Beweise, auf Grund deren wir einen Auslieferungsantrag stellen könnten?«
    »Ein Auslieferungsantrag kommt nicht in Frage. Wenn ihm die Tatsachen unterbreitet werden …«
    »Welche Tatsachen, M. Poirot?« fragte der Polizeichef irritiert. »Von welchen Tatsachen sprechen Sie eigentlich?«
    »Von der Tatsache, dass Etienne de Sousa eine hochelegante Luxusjacht besitzt, die darauf hindeutet, dass seine Familie reich ist, von der Tatsache, dass der alte Merdell Marlene Tuckers Großvater war (was mir selbst erst seit heute bekannt ist), von der Tatsache, dass Lady Stubbs gern breitrandige Kulihüte trug, von der Tatsache, dass Mrs Oliver, trotz ihrer hemmungslosen und unzuverlässigen Phantasie und obwohl sie es selbst nicht weiß, eine sehr gute Menschenkennerin ist, von der Tatsache, dass Marlene Tucker in einer Schublade ihrer Kommode Lippenstifte und Parfümflaschen versteckte, von der Tatsache, dass Miss Brewis behauptete, sie hätte den Auftrag, Marlene ein Tablett mit Erfrischungen ins Bootshaus zu bringen, von Lady Stubbs erhalten.«
    »Tatsachen?« Der Polizeichef sah ihn erstaunt an. »Das nennen Sie Tatsachen? Sie haben uns nichts Neues mitgeteilt.«
    »Sie würden Beweise vorziehen, konkrete Beweise – wie zum Beispiel den Leichnam von Lady Stubbs?«
    Jetzt starrte Bland ihn entgeistert an.
    »Haben Sie die Leiche von Lady Stubbs gefunden?«
    »Nein, gefunden habe ich sie nicht, aber ich weiß, wo die Leiche versteckt ist. Sie werden zu der Stelle gehen, und nachdem Sie sie gefunden haben – ich betone: Nachdem –, werden Sie alle Beweise haben, die Sie brauchen. Denn nur eine Person kann sie dort versteckt haben …«
    »Und wer ist diese Person?«
    Hercule Poirot sah so zufrieden aus wie eine Katze, die eben einen Teller Rahm ausgeschleckt hat.
    »Der Mann, der sich eines solchen Verbrechens schon oft in ähnlichen Fällen schuldig gemacht hat«, sagte er leise. »Der Ehemann. Sir George Stubbs hat seine Frau ermordet.«
    »Aber das ist unmöglich, M. Poirot. Wir wissen, dass es unmöglich ist.«
    »Es ist durchaus nicht unmöglich«, entgegnete Poirot. »Hören Sie zu, ich werde es Ihnen erklären.«

21
     
    H ercule Poirot blieb einen Augenblick bei dem hohen, schmiedeeisernen Tor stehen und blickte auf die gewundene Auffahrtsstraße, die vor ihm lag. Die letzten goldbraunen Blätter flatterten von den Bäumen. Die Alpenveilchen waren verblüht. Poirot seufzte, dann trat er einen Schritt zur Seite und klopfte sachte an die Tür des kleinen, weißen Pförtnerhauses.
    Nach einigen Augenblicken hörte er zögernde Schritte, und dann öffnete Mrs Folliat die Tür. Dieses Mal überraschte ihn ihr zartes, zerbrechliches Aussehen nicht.
    Sie sagte: »M. Poirot? Sind Sie wieder hier?«
    »Darf ich hereinkommen?«
    »Natürlich.«
    Er folgte ihr ins Zimmer. Sie bot ihm Tee an, aber er lehnte ab. Dann fragte sie leise: »Warum sind Sie gekommen?«
    »Ich glaube, Sie können es sich denken, Madame.«
    Ihre Antwort war unverbindlich.
    »Ich bin sehr müde«, sagte sie.
    »Ja, ich weiß«, erwiderte er und fuhr dann fort: »Inzwischen hat sich die Zahl der Ermordeten auf drei erhöht – zu Hattie Stubbs und Marlene Tucker ist der alte Merdell hinzugekommen.«
    »Merdell?« wiederholte sie schroff, »das war ein Unfall. Er ist vom Kai gefallen. Er war sehr alt, halb blind, und er kam aus dem Wirtshaus.«
    »Es war kein Unfall. Merdell hat zu viel gewusst.«
    »Was hat er gewusst?«
    »Er hat entweder ein Gesicht, einen Gang oder eine Stimme wiedererkannt. Ich sprach am Tag meiner Ankunft mit ihm. An diesem Tag erzählte er mir alles über die Familie Folliat; er sprach über Ihren Schwiegervater, über Ihren Mann und über Ihre beiden Söhne, die im Krieg gefallen sind. Nur dass sie nicht beide gefallen sind, nicht wahr? Ihr Sohn Henry ist mit seinem Schiff untergegangen, aber James, Ihr zweiter Sohn, ist nicht umgekommen. Er ist desertiert. Zuerst hieß es vielleicht, er wäre vermisst, wahrscheinlich gefallen, und später erzählten Sie jedermann, er sei tot. Und niemand kam auf den Gedanken, Ihnen nicht zu glauben – warum auch?«
    Poirot machte eine kurze Pause, dann fuhr er fort:
    »Glauben Sie nicht, dass ich kein Mitleid mit Ihnen habe, Madame. Ich weiß, dass Sie ein schweres Leben hatten. Sie konnten sich über Ihren jüngeren Sohn keine Illusionen machen, aber er war und blieb Ihr
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