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Wiedersehen in Harry's Bar

Wiedersehen in Harry's Bar

Titel: Wiedersehen in Harry's Bar
Autoren: Joe Schreiber
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echt und unwirklich zugleich zu sein. Mittlerweile war es schon nach halb zehn, fast zehn. Wahrscheinlich würde ich es immer noch rechtzeitig zum Soundcheck nach Downtown schaffen, wenn ich jetzt die Zehn-Dollar-Cola bezahlte und wir die Biege machten. Solange nichts Dummes dazwischenkam.
    Ich holte das Handy raus und sah noch mal nach, wie spät es war. Gobi war schon ewig weg. Drei wichtig aussehende Wall-Street-Typen an der Tür guckten in meine Richtung, als ob sie gleich rüberkommen und fragen würden, ob sie den Tisch haben konnten. Ich blickte hilfesuchend in Richtung Toilette – und sah eine schlanke junge Frau in einem hautengen schwarzen Minikleid und cooler Sonnenbrille direkt auf mich zukommen. Unter dem seidigen Stoff, der endlos dehnbar zu sein schien, schwenkte sie die Hüften wie ein Metronom. Ihr Lippenstift war so rot, dass er geradezu die Luft durchschnitt.
    Sie ließ ihre Tasche neben meinem Glas auf den Tisch plumpsen. »Ich hab’s mir anders überlegt«, sagte sie. »Lass uns gehen.«
    Ich starrte sie an. » Gobi? «
    »Hol das Auto.«
    Ich glotzte sie immer noch an, während meine grauen Zellen verzweifelt das zu verdauen versuchten, was meine Augen ihnen übermittelten. Es war Gobi. Aber sie war es auch nicht . Das Schwammige, die bleiche, picklige Haut, die fettigen Strähnen – alles weg. Alles an ihr war klar und deutlich, glatt und sauber. Sie hatte ihren borstigen Dutt aufgemacht; ihre karamellbraunen Locken bauschten sich um Gesicht und Schultern. Der schmale, geschmeidige Körper, den sie unter vierzig Pfund osteuropäischer Wolle versteckt gehalten hatte, war direkt vor mir und wölbte das Kleid an den richtigen Stellen. Man konnte fast die Nähte platzen hören, wenn sie atmete. Die einzige Gemeinsamkeit mit dem Mädchen, das auf der Toilette verschwunden war, war das Kettchen mit dem halben Herzen, das immer noch an ihrem Hals baumelte.
    »Was ist denn mit dir passiert?«
    Sie schob die Sonnenbrille auf die Nasenspitze und sah mich mit zwei Augen an, deren stechend grüne Farbe wie Peroxid ätzte. »Du starrst mich an.«
    »Tut mir leid, aber, äh … ja.«
    »Ich bezahl dein Getränk. Wir treffen uns draußen.« Sie nahm ihre Tasche und warf einen Blick nach vorn, wo in Eingangsnähe mehrere nach Vorort aussehende Männer mit Anzügen, angeklatschten Haaren und Drinks in der Hand neben Frauen in kaum vorhandenen Kleidchen standen. »Park nicht direkt vor der Scheibe.«
    Beim Aufstehen schlug ich mir das Knie am Tisch an, wahrscheinlich, weil ich immer noch Gobi angaffte. Dann ging ich nach draußen und gab dem dienstbaren Geist meinen Parkschein.
    Als er mit dem Jaguar vorfuhr, war Gobi noch nicht zu sehen. Ich setzte mich hinters Steuer und fuhr vor dem Club so dicht an die parkenden Autos heran, wie ich es kratzertechnisch wagte. Dann zückte ich das Handy und rief den einen Menschen an, der mir garantiert glauben würde.
    Es klingelte drei Mal.
    »Yo, Perry?« Im Hintergrund waren Lärm und Musik vom Abschlussball zu hören.
    »Chow.«
    »Was geht ab, Alter? Ich hab gehört, Whittaker hat dir eins übergebraten und dann habt ihr euch einfach verpisst, bevor –«
    »Stell dir vor, Chow, ich bin mit Gobi in der City.«
    »Was, wo? In der Ci-tai? Wie cool ist das …«
    »Nein, hör zu, weißt du, wo wir sind? Im 40/40 Club –«
    »Fowty-Fowty«, wiederholte Chow ohne die Tatsache zu verbergen, dass er ein fünfzehnjähriger Koreaner war, der zu viel Rap hörte und World of Warcraft spielte. »Yo, verstanden. Du bist der Coolste, Perry, du bist der Obercoolste, du bist so was von –«
    »Kannst du mal eine Sekunde die Klappe halten, Chow?«, sagte ich. »Gobi ist gerade vom Klo zurückgekommen, und sie sieht total verändert aus. So absolut oberhammergeil, das kannst du dir nicht vorstellen.«
    »Moment mal.« Chow unterbrach sein Hip-Hop-Getue. »Reden wir hier von der Austauschschülerin, die wie Heidi auf Russisch aussieht?«
    »Ich mach ’n Foto für dich, wenn sie rauskommt. Das glaubst du nie, wie die aussieht. Ich bin gerade vor dem Club und warte auf –«
    Weiter kam ich nicht, weil von drinnen Geschrei zu hören war.
    Eine Sekunde später zersplitterte die Vorderscheibe des Clubs. Scherben barsten auf den Bürgersteig und etwas kam herausgeflogen: der Körper eines Mannes mit gegelten Haaren im grauen Anzug, der auf die Kühlerhaube des Jaguars prallte. Das blutige Gesicht landete zwanzig Zentimeter vor mir direkt auf der Windschutzscheibe. Es sah aus,
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