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Wiedersehen in Hannesford Court - Roman

Wiedersehen in Hannesford Court - Roman

Titel: Wiedersehen in Hannesford Court - Roman
Autoren: dtv
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Er saß da, von Kissen gestützt, starrte geradeaus, sein Atem ein furchtbares Rasseln, als täte ihm jeder Atemzug weh. Er drehte sich nicht um, als ich hereinkam, doch selbst da begriff ich es noch nicht. Ich fing sogar an, mit ihm zu reden. Erst als ich meine Hand vor seinem Gesicht hin und her bewegte, wurde mir alles klar. Es war einfach nichts mehr da. Er atmete, aber das war auch schon alles. Ich saß eine Weile da und beobachtete ihn, dachte darüber nach, was er Julia angetan hatte. Zwang mich, es mir genau vorzustellen. Dann legte ich meine Hände um seinen Hals. Als ich zudrückte, spürte ich den Puls unter meinen Fingern. Und als mein Griff fester wurde, merkte ich, wie das rasselnde Geräusch verstummte, und ich wusste, er war kurz davor zu sterben. Und dann traf mich die Erkenntnis. Ich würde ihm einen Gefallen tun, wenn ich ihn tötete. Was für einen Sinn hätte das?«
    Reggie schaute mir unverwandt in die Augen. Sie waren ruhig und gleichgültig.
    »Es war das Grausamste, das ich je getan habe, Tom. Vorsätzliche, berechnende Grausamkeit. Viel schlimmer als jeder Mord. Ich ließ ihn am Leben, weil ich wollte, dass er weiter litt. Als ich losließ, atmete er wieder. Ich blieb noch eine Weile sitzen und schaute ihn an und dachte an Julia. Dann stand ich auf und ging.«
    Er lachte, ein trockenes, spöttisches Glucksen. »Erst später kam mir der Gedanke, dass ich ihn um Margots willen hätte töten sollen, um ihr das endlose Warten zu ersparen. Aber da war es schon zu spät. Der große Vorstoß hatte begonnen, und nun war ich es, der in Einzelteilen nach Hause geschickt wurde.Die Seiten aus dem Notizbuch des Professors sind dort gelandet, wo meine Beine gelandet sind. Selbst wenn ich wollte, könnte ich nie ein Wort davon beweisen.«
    Ich sah zu, wie er in seinem Rollstuhl zusammensackte. Er atmete langsam, leise aus, drehte den Rollstuhl vom Fenster weg und rollte zum Bett. Ich blieb vor der Scheibe stehen und sah hinaus. Durch meine eigenen Umrisse hindurch sah ich eine Frau mit einem Kind, die eilig den Weg durch die Uferauen nahm. Vielleicht wollte sie zu Harry Stansburys Gedenkgottesdienst.
    »Und du hast es Margot nie erzählt?«
    Er schüttelte den Kopf. »Welchen Sinn hätte das gehabt?«
    Ich wartete, bis die Frau zwischen den Bäumen verschwunden war, und drückte meine Zigarette aus.
    »Ich muss jetzt gehen. Man erwartet mich in der Kirche.«
    Freddie Masters wartete vor der Kirchentür auf mich. Wir gingen als Letzte hinein.
    »Herrgott, Mann, du siehst schrecklich aus«, flüsterte er mir zu. »Einen Moment lang dachte ich, du würdest kneifen. Denk dran, der prachtvollste Bursche, der je gelebt hat. Fass dich kurz. Danach können wir alle nach Hause gehen.«
    Die Kirche war voll. Neben den Vertretern aus Hannesford Court waren auch viele Ballgäste schon angereist; und es war eine beträchtliche Anzahl Dorfbewohner gekommen. Aus Liebe zu Harry?, fragte ich mich. Aus Respekt gegenüber der Familie? Oder einfach nur aus dem allgemeinen Gefühl heraus, dass man die Gefallenen ehren sollte? Als ich mich in meiner Bank weit vorn in der Kirche umdrehte, sah ich Anne einige Reihen hinter mir. Sie sah mich nicht an.
    Es wurde rasch klar, dass Sir Robert die Lieder ausgewählt hatte. Wäre mir nicht so schlecht gewesen, hätte ich vielleicht gelacht: ›Vorwärts, Christi Streiter‹, gefolgt von ›Soldaten des Herrn, steht auf‹. Dazwischen gab es Gebete für die glorreichenGefallenen und eine kurze Ansprache des Pfarrers über die Werte und Tugenden der Jugend. Sie funktionierte sowohl als Tribut an Harry wie auch als subtiler Appell zugunsten der Dorfschule. Als sich die Gemeinde durch ›Wer wacker will sein‹ arbeitete, gab mir der Pfarrer ein Zeichen, ich solle ans Pult treten.
    Ich hatte nichts weiter bei mir als mein altes Notizbuch, das ich sorgfältig auf der Bibel platzierte. Ich schlug die Seite auf, auf der ich einige Zeilen über Harry notiert hatte. Gegenüber hatte ich das Fragment eines Gedichtes hingekritzelt, das ich in der Tasche eines meiner sterbenden Männer gefunden hatte.

    Wenn sich das Schweigen senkt, vergesst uns.
    Wir starben nicht, damit ihr trauert,
    Bedauern nicht das Leben, das wir führten.
    Vergessen wächst so wie das Gras,
    Wir lassen Bäume über uns gedeihen,
    Vergesst uns alle, und vergesst, was war,
    So wie wir euch vergessen.
    Ich versuchte verzweifelt, eine positive Erinnerung an Harry Stansbury heraufzubeschwören. Es fiel mir nicht leicht. Harry,
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