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Wiedergaenger

Wiedergaenger

Titel: Wiedergaenger
Autoren: Alexandra Kui
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Holzbrett, eine lächerlich kleine Aufgabe, wenn
sie sich die Berge von schmutzigem Geschirr in Erinnerung ruft, die
früher in diesem Haushalt zu bewältigen waren.
    Als sie schließlich vor die Tür tritt, fängt es an
zu regnen. Sie lässt sich nicht beirren. Ihr Mantel aus
Schafswolle, selbstgestrickt im eisigen Winter von 1976, hält
einiges aus. Ein ausgesprochen hässliches Kleidungsstück,
grau und unförmig, auf Muster hat sie ganz verzichtet. Sie war
nie eine begabte Strickerin, verglichen mit den einheimischen Frauen.
Doch immerhin wärmt der Mantel sie seit mehr als dreißig
Jahren. Seit sechzig Jahren hat sie die Heimat nicht gesehen.
Unglaublich, wie alt sie geworden ist.
    Am Strand Sintflut. Wohin Fritzi sich wendet, eine Wand aus
Wasser, Regen, so undurchdringlich, dass sie kaum sieht, wohin der
nächste Schritt sie führt.Zum Meer hin ist es heller,
draußen auf offener See hält sich der Morgensonnenschein.
Sie geht auf das Licht zu. Es wird gleißend. Je näher sie
der Brandung kommt, desto mehr schmerzt es in den Augen. Mit Getöse
werfen sich die Wellen auf den schwarzen Sand. Der Norden versteht
sich nicht auf Milde. Die Gischt greift nach ihr, das Wasser, das in
ihre Stiefel rinnt, ist eisig. Immer. Im Sommer wie im Winter, im
Frühling wie im Herbst.
    Eben war März, jetzt ist Juli, und sie ist nicht mehr alt,
sondern jung. Sie erwartet ihr erstes Kind, ist frisch verheiratet.
Einige Tage zuvor hat Urgroßmutter Finna eine ihrer Geschichten
erzählt. Sie saßen beim Feuer und aßen Klippfisch,
dick mit Butter bestrichen, es war spät am Abend, aber nicht
dunkel, silbriger Glanz über den Bergen. Die Alte hob auf einmal
ihre Kleider, um ihren Bauch zu zeigen, der aus nichts als Narben zu
bestehen schien. Ihre Stimme im Flüsterton: »Heute weiß
kaum noch jemand, dass Seehunde vom Geruch Schwangerer angelockt
werden. Sie reißen die Frauen auf und fressen die Leibesfrucht.
Ungeborene Kinder – die Seehunde sind verrückt danach.
Immer wenn ich in anderen Umständen war, schickte Olafur mich
als Köder an den Strand, Gott sei ihm gnädig, es war der
Hunger, der ihn dazu brachte. Wir brauchten das Seehundfleisch. Drei
Jahre ist alles gut gegangen, drei Mädchen. Beim vierten Kind
waren wir nicht schnell genug. Es war ein Junge, ich weiß es
genau.«
    Hunger. Fritzi weiß, was Hunger bedeutet. Vom Schlafen gehen
mit knurrendem Magen bis zur Bereitwilligkeit, alles zu essen, was
verfügbar ist, verschimmeltes Brot, ranziges Fett, faules Obst
oder Löwenzahn, der zwischen Bahngleisen wächst. Sie weiß,
wie es ist, aus Hunger zu stehlen. Seither teilt sie nicht gern, doch
das ist nicht der Grund dafür, dass sie das Kind nicht will. Sie
haben genug zu essen. Sie hat keine Erklärung für ihr
Verhalten.
    Die Strömung zerrt an ihren Füßen, wirft sie
beinahe um. Käme tatsächlich ein Seehund, ihr Ungeborenes
zu reißen, sie wäre ebenfalls verloren. Ein hoher Preis.
Sie ist bereit, ihn zu zahlen.Aber dazu kommt es nicht. Ein Schrei,
lauter als die Brandung, lässt sie zurückblicken. Jón
rennt über den Strand auf sie zu, wirft sich gegen den Wind, die
langen Arme schon nach ihr ausgestreckt, als er noch weit entfernt
ist, daneben der Hund mit lautem Gebell. Jón ruft ihren Namen
und einen Befehl auf Deutsch, als würde sie beim Klang ihrer
Muttersprache, den er kurios imitiert, besser parieren: »Stehen
bleiben!« Sie steht ja. Soweit es die Wellen zulassen. Er hat
sie erreicht, packt sie schimpfend, diesmal auf Isländisch, und
zerrt sie an Land, wo er sie schüttelt, bis ihr schlecht wird.
Sie sucht nach einer Lüge, will ihren Plan verschleiern, doch er
hat alles begriffen. Er kennt die alten Geschichten, ahnte bereits,
wie es um Fritzi steht, sensibel, wie er ist. Ein begabter
Rimursänger, der aus dem Stehgreif Verse dichten kann, und das
nicht nur unter dem Einfluss von Branntwein. Dass bei ihr keine
Freude auf das Kind zu erkennen sei, hat er dem Nachbarn
zugeflüstert, und sie hat es gehört.
    Das Schütteln hört auf. Er gibt ihr eine Ohrfeige. So
halbherzig ist sie nie zuvor geschlagen worden, sie spürt es
kaum.
    Â»Du bist eine schlechte Frau, gesund und stark, aber
schwierig«, sagt er wie zur Entschuldigung.
    Fritzi antwortet nicht.
    Â»Was stimmt nicht mit dir?« Er sucht ihren Blick, sie
meidet seinen. Obwohl er es war, der die
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