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Wie weiter?

Wie weiter?

Titel: Wie weiter?
Autoren: Gregor Gysi
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wird daraus nicht ersichtlich.
    In einen der Wahlkämpfe in den 90er Jahren zogen wir mit Rio Reisers vielleicht populärstem und schön ironischem Hit: »Das alles und noch viel mehr würd’ ich machen, wenn ich König von Deutschland wär’ …« Rio Reiser war, das nur zur Erinnerung, 1990 Mitglied der PDS geworden. Als wir uns bundesweit im öffentlich-rechtlichen Fernsehen mit diesem von einem Kinderchor gesungenen Wahlkampfsong präsentierten, nahmen die Radiostationen Reisers Original aus dem Programm, und der Musiksender VIVA boykottierte seinen Videoclip. Nur nebenbei bemerkt.
    Mich hat der Text des engagierten Linken, der, keine 47 Jahre alt, bereits im Jahr 1996 verstarb, immer zum Träumen provoziert. Was würde ich machen, wenn …
    Um nicht falsche Schlüsse zu provozieren: Ich bin weder Anhänger der Monarchie noch so naiv zu glauben, dass ein Einzelner in der parlamentarischen Demokratie die Verhältnisse über den Haufen werfen könnte. Und das ist auch gut so, wie einmal ein bekannter Berliner bekannte. Selbst demokratisch erstrittene Mehrheiten sind nur begrenzt in der Lage, gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen. Und das setzt zunächst voraus, dass sich Mehrheiten finden, die auch verändern wollen. Die also nicht nur Bestehendes bewahren und Besitzstände sichern möchten, sondern die diese absichtsvoll infrage stellen. Zum Beispiel Reichtum für alle verlangen und diesen nicht nur auf wenige tausend Personen konzentriert sehen wollen, wie es derzeit der Fall ist.
    Mehrheiten finden sich nicht spontan und über Nacht, sondern in einem langwierigen Aufklärungs- und Erkenntnisprozess. Dieser steht unter dem Diktat des Zeitgeistes, jener Tendenz in der öffentlichen Diskussion, die Zustimmung oder Ablehnung, Interesse oder Desinteresse signalisiert. Wenn der Unmut über Vorgänge und Verhältnisse im Lande zunimmt und die Unzufriedenheit wächst, dann müssen auch die Parteien darauf reagieren. Dann werden Konservative sozialdemokratischer und Sozialdemokraten zumindest verbal ein wenig linker, die Grünen werden bürgerlicher und die Liberalen ein wenig grüner. Und es treten Parteien wie die Piraten oder die Alternative für Deutschland auf den Plan, die kurzzeitig eine bestimmte Kultur, eine besondere Form der Kommunikation oder Unmut aufnehmen und artikulieren, um alsbald zu offenbaren, dass sie auch nicht anders oder gar besser sind als die übrigen. Die Strohfeuer verlöschen regelmäßig. Es geht bei Politik um Ausdauer und Nachhaltigkeit, um Dauerhaftigkeit in der Veränderung. Dafür ist der Zeitgeist Dreh- und Angelpunkt.
    Ich glaube, die Frischzellenkur, die die deutsche Politik nach 1990 durch die Entstehung der Partei des Demokratischen Sozialismus erfuhr, ist diesem Land gut bekommen. Die anderen Parteien aus dem Osten wurden wegfusioniert und deren Mitglieder den in der alten Bundesrepublik geltenden Spielregeln unterworfen. Wir hingegen blieben in den Westaugen gleichsam als Fremdkörper und Störfaktor der deutschen Innenpolitik übrig. Die weniger ideologisch Vernagelten empfanden dies als Gewinn.
    Der Wahlforscher Richard Stöss bescheinigte den ostdeutschen Linken in der PDS bereits 1995, dass sie »wesentlich zur politischen Stabilität und inneren Einheit« beigetragen hätten. Neben anderem auch deshalb, weil die Partei »eine wichtige Integrationsaufgabe« erfülle. Das sahen die anderen Parteien offenkundig damals nicht so, der Zeitgeist war gegen uns. Auch nach fast einem Vierteljahrhundert der staatlichen Vereinigung sind wir vielen Parteitaktikern und Ideologen noch immer lästig. Sie möchten gern ungestört und unwidersprochen ihre Kreise ziehen wie in den Jahrzehnten zuvor, weshalb sie uns lieber parlamentarisch tot denn lebendig sähen. Doch dem steht inzwischen ein anderer Zeitgeist entgegen. Es gibt eine stabile linke Wählerschaft in Deutschland jenseits der parlamentarischen Fünf-Prozent-Hürde.
    Politische Parteien und deren Führungspersonal brauchen nach meiner Überzeugung eine kontinuierliche Erneuerung. Sie haben das gleiche Problem, das Bert Brecht pointiert an Herrn Keuner sichtbar machte. Herr Keuner wurde von einem Mann, der ihn lange nicht gesehen hatte, mit den Worten begrüßt: »Sie haben sich gar nicht verändert.«
    Oh, sagte Herr Keuner und erbleichte.
    Dieses Erbleichen sollten wir überflüssig machen, indem sich die Linke stetig an Haupt und Gliedern erneuert und sich politisch und pragmatisch entwickelt. Das schließt eine
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