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Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam

Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam

Titel: Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam
Autoren: HanneLore Hallek
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Die Belgierin meines Alters mir gegenüber hat auch vier Kinder und auf dem Pilgerweg die erste Auszeit ihres Lebens; der Franzose neben ihr fragt, ob wir von der Frau aus Nizza gehört hätten, die mit der Asche ihres verstorbenen Mannes auf dem Camino unterwegs ist, um ihn in Santiago bestatten zu lassen. Da schauen wir uns betreten an, bis jemand respektlos in die Runde wirft: „Hoffentlich ist die Urne nicht so schwer“. Und als die kuhäugige, großbusige Bedienung tanzend und singend einen Fernsehwerbespot nachspielt, damit wir verstehen, welcher Art die Nachspeise ist und dabei eine Flasche Wasser über den Tisch und mich ausschüttet, amüsieren wir uns, regen uns über so eine Lappalie nicht mehr auf. Was ist noch wichtig?
    Auf dem dunklen Feldweg gehe ich allein zurück, mit meinem immer noch wirren Kopf und einem unerklärlichen Gefühl von Bedrücktheit und lasse den Tag vorüberziehen. Fünfunddreißig Kilometer habe ich heute geschafft, davon zweiunddreißig zu Fuß. Jetzt sind es nur noch vierzig bis zum Ziel. Zwei Tage. Am Sonntag werde ich dort sein.
    Wer bin ich dann?

Der 40. Tag
Ribadiso — Pedrouzo — Santiago de Compostela > 44 km

    Nie hätte ich erwartet, dass dies der letzte Tag meiner Wanderung würde...

    Der Morgen ist anders als die vorhergehenden. Nach unruhigen Träumen bin ich gereizt und launisch und wünsche alle anderen Menschen weit weg. Nur, dass Melusine und Peter mich füttern, weil eine Maus in der Nacht mein Brot angeknabbert hat, ist in Ordnung, und ich verstelle mich, bin freundlich und locker. „Adiós bis heute Nachmittag in Pedrouzo.“ Dort ist die beste Möglichkeit den Rest des Weges zu teilen, wir werden uns zwangsläufig wiedertreffen.
    Dass sich so viele Wanderer mit mir zusammen auf den Weg machen, bin ich gar nicht mehr gewohnt, doch weil ich auch heute wieder langsam bin, treffe ich eine Stunde später in Arzúa nur noch Nachzügler und, allein auf der kühlen Straße vor einer Bar, Eliza. „Good morning, trink einen Café mit mir.“ Ich bleibe, doch lieber wäre ich allein, und als sie mich fragt: „Was ist mit dir los, du wirkst so traurig?“, laufen mir Tränen über die Wangen, die ich schnell abwische, während ich mich abwende. Ja, ich bin traurig, doch weiß nicht warum, fühle mich durcheinander, ärgerlich, bitter, versuche es zu überspielen — „ach, es ist nichts“, stürze meinen Café hinunter und laufe weg. An der Nationalstraße aus dem Ort auf eine Piste und bergab, über Dörfer und wieder auf Pisten in Eukalyptuswälder, und dort bin ich ganz allein und das ist gut so. Ich werde immer trauriger, wütender und aufgeregter, weiß immer noch nicht warum, habe kein Bild dazu, fühle, dass etwas in mir geschieht, das sich meiner Kontrolle entzieht — bis alle Gefühle sich zu unbändiger Wut bündeln, die wie ein Vulkan aus mir herausbricht und urplötzlich aus mir heult und schreit; hinter der ein Bild entsteht und Worte, und dann ist es da: Papa.
    Ich hasse meinen Vater.
    Meinen lieben Papa, an den ich die schönen Seiten meiner Kinderzeit geknüpft hatte. Nenne ihn jetzt Verbrecher: „Du charakterloser Egoist hast nur an dich gedacht und dein Leben gelebt und Kinder in die Welt gesetzt, mit denen du deinen Spaß haben wolltest, solange es für dich gut war, und dann hast du sie wieder verlassen, um zur nächsten Frau und zu den nächsten Kindern zu gehen. Und ich hab dich so geliebt und dachte, du liebst mich auch und bleibst bei mir, wie du es versprochen hattest. Lügner. Gemeiner Verlasser! — Nach dir und deiner Liebe hab ich immer und überall gesucht!“ Ich schreie die Worte heraus, wünsche ihn mir vor mich, um ihn zu töten, bebe vor Erregung.
    Erschöpft verkrieche ich mich ins Unterholz des Waldes, niemand soll mich sehen, ich muss verstehen, was gerade geschieht, versuche meine Gedanken zu klären und meiner Erschütterung Herr zu werden, doch sobald ich beginne zu denken, wird die Wut größer, fließen meine Tränen wie nie zuvor. Ich kann nichts mehr wegdenken, meine Gefühle sind da. Alle verdrängte Wut und Traurigkeit und Sehnsucht, bisher verdeckt von Angst und Illusion. Aber jetzt fühle ich und habe zu den Gefühlen Bilder.
    Es war schrecklich. Schrecklich, sich nicht erwünscht und erkannt zu fühlen. Schrecklich, zu hören, dass ich kleines Kind am Familienelend schuld bin. Schrecklich, hilflos zwischen zerstrittenen Eltern hin und her gezerrt zu werden.
    Und nun kommt auch Abscheu gegen meine Mutter hoch und
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