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Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam

Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam

Titel: Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam
Autoren: HanneLore Hallek
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einen Stiel weißer Clematis, trage beide Blumen mit mir. Warum? Wofür? Ich denke nicht mehr.
    Der Ort Monte do Gozo liegt in nebliger Stille. Wie feierlich sollte meine Ankunft an diesem außerordentlichen Platz sein. Und jetzt? Schnell in die offene Bar, um eine Banane und Schokolade zu kaufen, ich muss essen, um den Rest des Weges durchzuhalten. Im Laufen stopfe ich meinen Mund voll, lasse den Aussichtspunkt des Berges links liegen, werfe nur einen flüchtigen Blick auf das große Standbild zu Ehren der Pilgerschaft, möchte endlich Santiago sehen. Aber die Stadt ist unten im Tal nur zu ahnen, dicke Wolken liegen davor. Nur noch wenige Kilometer.
    19 Uhr. Vielleicht schaffe ich es, zur Abendmesse in der Kathedrale zu sein. Aber erst muss ich noch den Berg hinunter und an einem ausgedehnten Herbergenkomplex vorbei — da liegt das Häusermeer vor mir! Einige Dutzend Stufen haste ich zwischen weißen Ziegen hinunter auf die erste Straße der Stadt und auf eine Brücke mit dem Ortsschild .
    „Ich habe es geschafft!“ Reiße die Arme hoch, schreie, jubele: „Ich habe es geschafft!“ Von den Pyrenäen hierher, mehr als 750 Kilometer. Bin angekommen!
    Wieder muss ich weinen. Diesmal vor Glück. Kann es mit niemandem teilen, weil die Straßen leer sind. Nur ein Autofahrer sieht mich so verzückt, schade, ich könnte die Welt umarmen, heule und heule, habe keine Taschentücher mehr, stürze furchtlos in die nächste Bar, ignoriere die Männer vor einem Fernseher, greife mir eine Handvoll Servietten, um mich zu schnäuzen, und laufe wieder hinaus.
    Weiter. Noch bin ich nicht in der Altstadt. Muss scheinbar endlose Ausfallstraßen entlang, bis ich auf die ersten Menschen treffe. Sie strömen in eine kleine Kirche am Straßenrand, deren Glocken läuten. Auch ich muss hinein, ein kurzes Dankgebet sprechen, und dann weiterlaufen. Wieder eine endlose Straße mit Mietshäusern. Wann bin ich endlich da? Es beginnt zu dämmern, links fallen die Straßen ab, da unten sind grüne Parks, doch wo sind die Türme der Kathedrale?
    Unvermittelt wird der Verkehr dichter, reißen mich die vielen geschäftigen Menschen in den Einkaufstraßen aus meiner Isolation, es kann nicht mehr weit ins Zentrum sein. Hier sind schon die ersten alten Häuser, vereinzelt leuchten Pensionsschilder. Sollte ich mir merken wo, damit ich für heute Nacht ein Bett finde? Ach was, ich weiß ja nicht mal, wo ich bin. Doch, hier ist die Porta de Camino, der Eingang zur Altstadt — meine Erregung steigt, gleich werde ich da sein! Schmale Gassen, zwei Plätze und dann stehe ich vor dem unspektakulären Nordeingang der Kathedrale —
    Nass und kalt und weinend öffne ich die große, schwere Kirchentür. Es ist kurz vor 20 Uhr. Die Messe hat begonnen. Touristen stehen in Grüppchen auf der Treppe, die in den Kirchenraum führt, treten beiseite, lassen mich hinunter steigen. Ich bin tatsächlich angekommen.

    Nie in meinem Leben werde ich dieses Gefühl der Rührung und des Glücks vergessen.

    Stehe erschöpft im Geschehen, schaue mich um, nehme den Raum, die anwesenden Menschen und die Zeremonie wahr und kann mich dann zur Gemeinde setzen, um meine Messe mit ihnen zu begehen. Ja, es ist meine Messe. Mir ist, als würde alles, was stattfindet, nur für mich passieren. Mit meinen Blumen in der Hand gehe ich zur Kommunion, euphorisch und erschüttert.
    Nur langsam werde ich ruhiger und erinnere mich an die wichtigsten Pilgerrituale. Steige hinter dem Hauptaltar einige Stufen zur lebensgroßen Figur des Heiligen Jakobus hinauf, um ihn zu umarmen und mit ihm Zwiesprache zu halten. „Danke Jakobus für den Weg und die Klarheit, die ich gewonnen habe. Ich lege zwei Blumen hinter dich. Eine grüne für meinen Vater und eine weiße für meine Mutter. Lass mich frei von Hass und Verzweiflung sein, denn sie haben getan, was ihnen möglich war, und mach mich frei von der Abhängigkeit, gebraucht und geliebt zu werden. Bitte nimm meine Lasten, ich möchte sie bei dir lassen, gib mir dafür Liebe und Zuversicht.“ Irgendwo lege ich die Blumen ab, fühle mich erleichtert, als hätte ich vergeben und mich versöhnt, steige dann zitternd in die Krypta unter dem Altar, zum Schrein mit den Gebeinen des Heiligen, vor dem ich auf die Knie falle. Demütig und unendlich hingegeben, denn in diesem Moment überfällt mich der Gedanke, dass Jakobus wirklich Jesus erlebt hat. Mit ihm gelebt hat. Jesus, den ich anbete, weil er für mich die Liebe
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