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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten
Autoren: Kristin Feireiss
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nicht vermeiden lässt. Ihr Sohn Josef schreibt dazu in seinen Erinnerungen: »Mein Vater war absolut und knöchern konservativ.« * Seiner Mutter bescheinigt er, dass sie »eher zu demokratischeren, liberalen Positionen« neigte. Die reaktionäre Haltung meines Großvaters lässt sich tatsächlich nur schwer mit der Denk- und Gefühlswelt seiner Frau vereinbaren, die durch Verständnis, Großherzigkeit und Toleranz geprägt ist. Gutmütig, wie Josef seine Mutter beschreibt, ist sie indes nie gewesen. Meine Großmutter ist gütig. Gutmütigkeit ist ein Zeichen von Schwäche, meine Großmutter aber ist stark.
    Die unterschiedliche politische Haltung hat die Beziehung meiner Großeltern zueinander nie anhaltend getrübt. Eine der wenigen Abmachungen in ihrer Ehe besagt, nie im Streit einzuschlafen. Ich weiß nicht, wer von beiden in solchen Situationen der Erste gewesen ist, der im ehelichen Doppelbett die Hand ausstreckt. Wie meine Großmutter mir mit dem Anflug eines Lächelns versichert, sind sie morgens immer versöhnt aufgewacht. Diese ursprünglich für die Eheleute gedachte Abmachung bringt meine Großmutter später auch erfolgreich in das Zusammenleben mit mir, ihrer jüngsten Enkelin, ein.
    Wenn es darum geht, anderen zu helfen, gibt es keine Meinungsverschiedenheiten zwischen den Eheleuten, sie tun es beide. Was bei meinem Großvater allerdings Mäzenatentum genannt wird, fällt bei seiner Frau unter Nächstenliebe. Die Aufgaben des Paares sind klar verteilt. Josef Carl, der wie seine Frau gern reitet und sogar einige Erfolge bei Springturnieren und Treibjagden vorweisen kann, unterstützt Sportvereine wie den »Reitturnier Verband« und die »Würzburger Rudergesellschaft«, was gleichzeitig mit Ehrenämtern verbunden ist. Seine Frau Jula fördert junge Musiker. Auch das hat Folgen: regelmäßige Hauskonzerte, denen die Familienmitglieder an Sonntagnachmittagen im Salon des Hauses ausgesetzt sind.
    Als ich über vierzig Jahre später die alten Familienfotos wieder betrachte, bekommt das strenge Bild meines Großvaters Neckermann für mich auf einmal weiche Züge. Er wirkt nicht mehr so unnahbar, obwohl seine Rolle als Oberhaupt der Familie nicht zu übersehen ist. Eines der Bilder ist wie eine Pyramide aufgebaut. Im Gras sitzen die beiden Söhne Josef und Walter, beide im Schneidersitz, beide tragen graue Anzüge mit kurzen Hosen und schwarze Wollstrümpfe. Die Haare sind artig aus dem Gesicht gekämmt. Vergleicht man die Brüder, so fällt der Unterschied ins Auge. Josef hat die Arme lässig über der Brust verschränkt und schaut frech und unternehmungslustig in die Kamera, so als wäre er auf dem Sprung. Die Hände des jüngeren Bruders Walter sind artig im Schoß gefaltet, die Schultern verlegen hochgezogen, der Blick ist fragend. In der zweiten Ebene der Pyramide sitzen die Frauen der Familie auf einer Bank. Mady, die ja eigentlich in die Reihe der Kinder gehört, ist gleichberechtigt neben ihrer Mutter und deren Schwestern platziert. Die Spitze der Pyramide bildet Großvater Neckermann. Er blickt ernst, aber nicht distanziert. Die Hand hat er auf die Schulter seiner Frau gelegt. Er kennt seine Verantwortung.
    Großvater Neckermann ist Kohlengroßhändler »en gros und en detail«. Sein Vater, der Metzger- und Innungsmeister Peter Neckermann, gehört als Abgeordneter der Bayerischen Volkspartei dem Deutschen Reichstag an. In den Lebenserinnerungen seines Enkels Josef ist über sein Leben nichts zu erfahren. Nur die Umstände seines Todes werden erwähnt. Er stirbt bei einem Ausflug mit der Kutsche zu seinem Weingut in Thüngersheim bei Würzburg. Der Weg dahin führt über einen Bahnübergang. Die schrillen Pfiffe der Lokomotive erschrecken die Pferde, sie scheuen, und die Kutsche stürzt um. Mein Urgroßvater wird bei dem Unfall tödlich verletzt.
    Der Umstand, dass Großvater Neckermann zunächst wie sein Vater eine Metzgerlehre macht, kommt der Familie während des Ersten Weltkriegs zugute. Mein Großvater schlachtet und räuchert auf dem Grundstück am Friedrich-Ebert-Ring. Die Tatsache, dass er dies gezwungenermaßen »schwarz« tun muss, zeigt, dass er, der Tadellose, im Notfall für seine Familie auch einmal über seinen moralischen Schatten springen kann. Die Kriegsjahre sind ein solcher Notfall.
    Mit dreiundzwanzig Jahren kehrt mein Großvater dem Metzgerberuf den Rücken, gründet einen eigenen Betrieb und wird Inhaber der »Kohlengroßhandlung J. C. Neckermann«. Er hat Erfolg und bald auch
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