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Wie der Soldat das Grammofon repariert

Wie der Soldat das Grammofon repariert

Titel: Wie der Soldat das Grammofon repariert
Autoren: Sasa Stanisic
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abgeschlossen.
    Durchdachte Serien sind die Lösung. Sollen andere Flugzeuge fliegen und im Zoo die Pelikane entlausen – ich werde ein Fußball spielender, angelnder Serienkünstler des Unfertigen sein! Keines meiner Bilder wird zu Ende gemalt, jedem wird etwas Wichtiges fehlen.
    Ich hole meine Malsachen, den Farbkasten, Papier leihe ich mir von meinem Vater. In ein Marmeladenglas gebe ich Wasser und weiche die Pinsel ein. Das leere Blatt liegt vor mir. Das erste Bild des Unfertigen muss die Drina sein, der lausbübische Fluss, noch ohne den Staudamm. Ich gebe Blau und Gelb auf den Mischteller, ziehe den ersten Strich grün über das Blatt, das Grün ist zu matt, ich dunkle es vorsichtig nach, male eine Kurve, ich helle es auf, zu kalt, ich gebe Ocker
hinzu, Grün, Grün, aber so ein Grün wie Drinas Grün kriege ich in hundert Jahren nicht hin.
     
    Die Toten sind einsamer als wir Lebenden es je sein können. Sie können einander durch Sarg und Erde nicht hören. Und die Lebenden gehen hin und pflanzen Blumen auf die Gräber. Die Wurzeln wachsen in die Erde und brechen durch den Sarg. Irgendwann ist der Sarg voll mit Wurzeln und mit dem Haar der Toten. Die können dann nicht mal mehr Selbstgespräche führen. Wenn ich sterbe, möchte ich ein Massengrab. In einem Massengrab hätte ich keine Angst vor der Dunkelheit und wäre nur deswegen einsam, weil mich mein Enkel so vermissen wird, wie ich meinen Opa Slavko jetzt.
    Ich bin opalos und unter meiner Stirn stauen sich die Tränen. Alles, was auf der Welt wichtig ist, findet man in der Morgenzeitung, im Kommunistischen Manifest oder in den Geschichten, die uns Tränen oder Lachen entlocken, am besten beides auf einmal. So klug sprach Opa Slavko. Wenn ich so alt bin wie er wurde, habe ich seine klugen Sätze, die großen Adern wie an den Unterarmen meines Vaters, die Rezepte meiner Oma und den seltenen frohen Blick meiner Mutter.
    Am Morgen des vierten Tages nach Opas Tod weckt mich Vater, und ich weiß sofort: Opas Beerdigung. Ich habe geträumt, dass alle in meiner Familie gestorben sind, nur ich nicht, was sich so anfühlte, als wäre ich auf einmal sehr weit weg und fände nicht mehr zurück.
    Pack deine Sachen, wir fahren.
    Mein Vater weckt mich nur bei Katastrophen, sonst küsst mich Mutter aufs Haar. Vater küsst mich grundsätzlich nicht. Unter Männern ist das schwierig. Er setzt sich auf die Bettkante, als möchte er noch etwas sagen. Ich richte mich auf. So sitzen wir jetzt da. Papa, ich sehe dich an, wie man jemanden ansieht, wenn man zuhört, schau, ich stehe nicht auf, es ist gut, wenn du mir jetzt all das erzählst, was ich schon weiß, mir erklärst, was ich schon verstanden habe, was aber erst
dann vollständig ist, nachdem es der Vater dem Sohn erzählt und erklärt hat. Sage ich nicht, und Vater sagt auch nichts. So reden wir miteinander. So reden wir häufig miteinander. Er arbeitet, verschwindet nach der Arbeit in seinem Atelier und bleibt die ganze Nacht dort. Am Wochenende schläft er lang. Sieht er Nachrichten, herrscht Redeverbot. Ich beschwere mich nicht, mit anderen spricht er noch viel weniger als mit mir. Ich bin zufrieden und meine Mutter ist froh, dass sie sich um meine Erziehung allein kümmern kann, da reden Vater und ich ihr nicht rein.
    In seinem Nichtssagen sieht mein Vater heute aus wie jemand ohne Muskeln. Er ist seit Opas Tod bei Oma geblieben. Die rief gestern spät an und fragte, wie es dem Kleinen geht. Sie dachte, meine Mutter sei dran. Ich schwieg. Wir werden jetzt Slavko waschen, verabschiedete sie sich. Ich stellte mir vor, wie Opa gewaschen und angezogen wurde. Ich sah keine Gesichter, ich sah nur Hände, die an Opa zerrten. Die Hände warfen alles an Bettwäsche aus dem Schlafzimmer und ließen die Laken aufkochen, weil man das so macht, wenn ein Toter in der Nähe liegt. Vom Waschen deines toten Vaters platzen dir die Äderchen in den Augen und deine Hände werden kleiner und du musst sie dir ständig ansehen. Mein stiller Vater sitzt auf der Bettkante, die Augen gerötet, die Hände auf den Knien mit Handflächen nach oben. Wenn ich so alt bin wie Vater, habe ich seine Falten. Falten beschreiben, wie gut man gelebt hat. Ich weiß nicht, ob mehr Falten ein besseres Leben bedeuten. Mutter sagt nein, aber ich habe auch das Gegenteil gehört.
    Ich stehe auf. Vater zieht das Laken gerade, klopft das Kissen aus. Hast du schwarze Sachen?
    Kein: Opa.
    Kein: Opa ist tot.
    Kein: Aleksandar, dein Opa kommt nicht mehr.
    Kein: So
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