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Whisper

Whisper

Titel: Whisper
Autoren: Arena
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einem großen, fast kreisrunden Gartengrundstück voller Wiesenblumen, Walnuss-, Laub- und Obstbäumen, war das Haus.
    Das Haus, das Noa später Whisper taufen würde.
    Lange nachdem jener Sommer vorüber war, hörte Noa Kat einmal sagen, ein Haus, in dem solche Dinge geschähen, müsste anders aussehen. Es müsste ein Haus mit verwinkelten Zimmern und düsteren Sälen sein; ein Haus mit hohen Wänden, die einem beim leisesten Geräusch das eigene Echo entgegenwarfen; ein Haus mit langen, sich windenden Fluren, mit knarrenden Treppen und geheimnisvollen Ecken … Jeder Regisseur hätte ein solches Haus ausgewählt, womöglich mit Sitz in Schottland oder England, weit abgelegen und mit Blick auf menschenleere Landschaften.
    Whisper hatte nichts von alledem. Es war ein schlichtes, zweigeschossiges Fachwerkhaus mit bröckelnder Fassade, grünen Moosflecken auf dem schwarzen Dach und einer angebauten Scheune direkt hinter dem Haupthaus. Sein Alter sah man ihm ebenso wenig an wie das dunkle Geheimnis, das es barg. Aber es war genau das, was Kat gewollt hatte – und was Kat wollte, bekam sie, das war ein ungeschriebenes Gesetz.
    Als Noas Mutter aus dem Auto stieg und sich mit in die Hüften gestemmten Armen umsah, stieß sie Schreie der Begeisterung aus, was einen dicken Spatz über ihr erschrocken aus dem Walnussbaum flattern ließ. Auch auf Gilberts Gesicht stahl sich die Farbe zurück und auf seinen runden Wangen breitete sich ein Lächeln aus, das Noa an ein glückliches Kind denken ließ.
    »Fünfhundert Jahre«, rief Kat mit übertriebener Ehrfurcht und legte ihre flache Hand auf einen schwarzen Holzbalken. »Unsere neue Ferienhütte ist fünfhundert Jahre alt. Ja, Wahnsinn. Ich könnte ausrasten vor Glück!«
    »Das tust du doch schon«, stellte Noa nüchtern fest und nickte mit dem Kopf zum Nachbarhaus, wo das Gesicht einer Frau hinter einer halb geöffneten Gardine hervorlugte. »Und deine ersten Zuschauer hast du auch schon. Fühl dich ganz wie zu Hause, Kat.«
    Kat warf lachend ihre Locken nach hinten und Noa hievte den Katzenkorb vom Rücksitz. »Kann ich die beiden rauslassen?« »Warte.« Kat hob die Hand und kramte in der Tasche ihres roten Ledermantels nach den Schlüsseln, die ihr Assistent für sie besorgt hatte. »Warte noch einen Augenblick, lass uns die beiden erst mal im Haus aussetzen. Die zwei Stadtneurotiker sind das nicht gewohnt, nicht dass die uns stiften gehen. Ich habe keine Lust auf noch mehr Tote in diesem Urlaub.«
    Die braune Eingangstür öffnete sich ächzend wie unter großer Anstrengung und klemmte, kaum dass sie halb geöffnet war, sodass sich Gilbert regelrecht ins Haus quetschen musste. Als Nächstes schob sich Kat durch die Tür und zuletzt Noa mit dem Katzenkorb in ihrer Hand. Der Flur war so winzig, dass sie sich aneinander drängen mussten. Er hatte einen alten Kachelboden, neben der Haustür gab es eine Holzgarderobe und vor dem Treppenaufsatz einen Schirmständer. Aber was Noa am stärksten wahrnahm, war dieser Duft. Ja, es duftete … nach Parfüm, nach Frauenparfüm; würzig, ein wenig süß und so intensiv, als wäre jemand, der diesen Duft frisch aufgetragen hatte, gerade an Noa vorbeigegangen. Irritiert musterte sie die beiden anderen. Gilbert konnte es nicht sein und Kat benutzte einen Männerduft von Jean Paul Gaultier. Ob jemand vor ihnen hier gewesen war, um nach dem Rechten zu sehen? Vielleicht die Frau des Bauern? Das wäre natürlich möglich, aber dennoch … dieser Duft passte nicht hierher, passte noch viel weniger hierher als sie, Noa, und Gilbert und vor allem Kat. Hatten sie denn nichts gerochen? Gerade, als Noa die beiden darauf ansprechen wollte, war der Duft verschwunden. Verflogen, als wäre er nie da gewesen. Kopfschüttelnd folgte Noa ihrer Mutter und Gilbert in die Küche, wo es jetzt genauso roch, wie es in einem alten, unbewohnten Bauernhaus riechen sollte: nach Staub und eingesperrter Luft, nach toten Mäusen und ein bisschen auch nach Einsamkeit. Plötzlich fröstelte Noa. Es war kalt in diesem Haus, kalt und klamm, als hätte es den Sommer ausgesperrt.
    Aus dem Katzenkorb drang ein klägliches Maunzen. »Jetzt, Kat?«, fragte Noa. »Kann ich die beiden jetzt endlich rauslassen?«
    »Ja, ja, mach nur.« Kat hatte ihre Tasche auf dem Küchentisch abgelegt und war schon weitergerauscht, durch die hintere Küchentür in einen noch kälteren Flur, der in den Kohlenkeller überging. Ein weiterer Keller verbarg sich hinter der verwitterten Holztür, die
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