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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind
Autoren: S Friedrich
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keine Brücke, keinen Fährmann, mit dem er zu neuen, helleren Ufern hätte übersetzen können. Clara denkt, dass er am Ende vielleicht ganz heiter war. Er war vielleicht erleichtert, es hinter sich zu haben. Nun muss Clara Harnack ihre vier Kinder eben allein durch diesen Krieg hindurchretten.
    Aber nicht ganz allein. Schließlich ist noch die Familie da. Onkel Adolf und Tante Amalie empfinden die familiäre Verantwortung. Sie bewohnen eine große Villa im Berliner Professorenviertel in Grunewald. Sie haben Platz: Ihre Kinder sind alle schon erwachsen und aus dem Haus. Onkel und Tante sind gern bereit, von Zeit zu Zeit die Sprösslinge ihrerSchwägerin zu sich zu nehmen, diesmal ist Arvid allerdings ohne seine Geschwister nach Berlin gefahren.
    Es ist eine außerturnusmäßige Reise. Arvid soll sich von einer Verletzung erholen. Man hat ihm sechs Glassplitter aus dem Auge operiert. Die Sache war leider nicht zu vermeiden. Ein Straßenbengel hatte einen kleineren Jungen mit einem Stock bedroht. Arvid hat eingegriffen, und bei der Rangelei ist seine Brille kaputtgegangen, das Unangenehmste waren wie immer Aufregung und Sorge der Mutter. Dabei hat Arvid sich bemüht, ihr den schlimmsten Schrecken zu ersparen. Er hat sich sein Taschentuch vors Auge gedrückt und ist ganz allein ins Krankenhaus marschiert, wo der Arzt die Splitter ohne Betäubung entfernt hat. Arvid ist nicht einmal angebunden worden. Er hat versprochen stillzuhalten, und das hat er auch getan. Er hat sich einfach die ganze Zeit über vorgestellt, er wäre ein Soldat im Krieg. Er hat sich vorgestellt, er wäre in vorderster Linie an der Front verletzt worden und läge nun da und würde operiert, es ist ein Junisonntag 1916.
    Der Krieg geht ins dritte Jahr. In den Gärten der großen Grunewaldvillen wachsen Kartoffeln und Kohl. Zwerghühner scharren zwischen den Frühbeeten. Hähne krähen den Amseln und Drosseln in ihre Lieder hinein. Im Schuppen der Delbrücks haust eine Milchziege. Im Schuppen der Harnacks hausen Kaninchen. Im Zaun dazwischen ist eine Pforte, die von einem Grundstück zum anderen führt, so dass man jederzeit zwischen dem Delbrück-Haus und dem Harnack-Haus hin- und hergehen kann: Amalie von Harnack und Lina Delbrück sind Schwestern, und ihre Männer sind über das unter Schwägern übliche Maß hinaus miteinander befreundet. Heute hat man sich um die sonntägliche Mittagstafel der von Harnacks versammelt.
    Im Moment plaudert man über Max Reinhardts Inszenierungder ›Räuber‹ an der Volksbühne, die Arvids Vettern Ernst und Axel gestern Abend gesehen haben. Ernst und seine junge Frau Änne sind zurzeit auf Besuch in Berlin. Ernst hat neunzehn Monate im Felde gestanden, dann ist er zusammengebrochen. Inzwischen haben die Kopfschmerzen nachgelassen, auch das Zittern und die Weinkrämpfe. Fronttauglich ist er aber nicht. Er ist zur deutschen Zivilverwaltung in Polen abkommandiert, Arvid vermeidet es, ihn darauf anzusprechen. Es ist dem Vetter doch sicher peinlich. Arvid selbst ist ärgerlicherweise erst fünfzehn und damit noch zu jung für den Krieg. Seine Mutter ist zum Frauenfriedenskongress der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit nach Den Haag gereist. Arvid stimmt ihr gern zu, dass Frieden viel besser wäre als Krieg. Aber er hofft doch, dass er noch mit dabei sein und für Deutschland kämpfen kann, bevor der Frieden ausbricht, auch wenn er auf dem dummen Auge vielleicht nie wieder richtig sehen wird.
    »Wollen wir nachher Schlagball spielen, Arvid?«
    Justus Delbrück sitzt Arvid gegenüber. Die Harnack-Vettern und -Basen sind alle erwachsen. Aber Just ist genauso alt wie Arvid. Mit Just, Emmi und Max Delbrück lässt sich etwas anfangen.
    »Wollen wir Schlagball spielen oder lieber Boccia?«
    »Schlagball zuerst. Boccia wird später sowieso gespielt, wenn Onkel Adolf in den Garten kommt.«
    Das Rhabarberkompott ist serviert. Die Löffel klappern. Die Fenster sind geöffnet. Draußen rauschen die Bäume. Das Gespräch an der Tafel plätschert munter dahin, teilt sich in mehrere Läufe auf, in Bächlein, die sich durch Wiesen schlängeln und über Steine springen, bevor sie wieder in ein gemeinsames Bett zusammenfinden. Dann rücken die Schwäger ihre Stühle zurück: Der Theologe und Religionswissenschaftler ProfessorAdolf von Harnack und der Historiker und Herausgeber der ›Preußischen Jahrbücher‹ Professor Hans Delbrück haben ihren Nachtisch aufgegessen.
    »Was ich noch anmerken wollte«, sagt Adolf
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