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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind
Autoren: S Friedrich
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daran interessiert, diese Interessen miteinander zu versöhnen. Dabei zu helfen ist Aufgabe des Staates, und den Staat richtig anzuleiten ist Aufgabe der Wissenschaftler der Universität. Die Grenzen der Universität von Wisconsin sind die Grenzen des Staats Wisconsin: Das ist die berühmte progressive Wisconsin Idea, auf die sie alle so furchtbar stolz sind. Aber ist es nicht eigentlich eine deutsche Idee?
    Die Amerikaner brauchen sich gar nicht so viel auf die gesellschaftlichen Wirkungsmöglichkeiten einzubilden, die sich ihre Universität erkämpft hat. Ist nicht Arvids eigener Onkel Adolf von Harnack das beste Beispiel für ein Wissenschaftlertum, das sich mit den Institutionen des Staates verbindet, um auf sie einzuwirken und so der Gesellschaft direkt zu nützen, statt weltfern auf dem grünen Hügel zu residieren? Bei aller typisch deutschen Bescheidenheit muss man es doch als selbstverständlichvoraussetzen, dass auch den Amerikanern die ethische und ästhetische Überlegenheit europäischer und insbesondere deutscher Kultur über alles Amerikanische klar bewusst ist. Keiner der Friday Nighters widerspricht Arvid.
    Sie kennen Arvids Onkel ja überhaupt nicht. Sie haben Adolf von Harnacks Namen noch niemals gehört, auch nicht den Namen der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, deren Präsident dieser Onkel angeblich sein soll, es ist ihnen auch ziemlich egal. Sie respektieren Arvid für die Tatsache, dass er bereits ein Studium abgeschlossen hat. Sie wundern sich ein wenig über die hochfahrende Verletzlichkeit ihres deutschen Kommilitonen, der sich benimmt, als versuchten die Amerikaner sein persönliches Erbe zu schmälern, aber sie sind entschlossen, ihren eigenen Traditionen zu folgen und ihrem Gast tolerant und freundlich zu begegnen, Arvid Harnack wird sich schon eingewöhnen.
    Er arbeitet bei John Commons über die Geschichte der vormarxistischen Arbeiterbewegung in den Vereinigten Staaten. Der Professor interessiert sich zurzeit sehr für die historische Entwicklung der amerikanischen Gewerkschaften. Arvid und Mildred sitzen allein in dem Souterrainraum der Universität, in dem sich die Friday Nighters heute Abend treffen wollen.
    Arvid erzählt Mildred von Albert Brisbane. Er hat Brisbane soeben für sich entdeckt. Brisbane ist in der Gegenrichtung zu Arvid gereist: Er war Amerikaner und hat in Europa Literatur und Philosophie studiert. Brisbane war von Europa begeistert. Er verkehrte im Salon der Rachel Varnhagen von Ense. Er war befreundet mit dem Komponisten Mendelssohn-Bartholdy, dem Großvater des Professors, dessen Empfehlung Arvid seinen Amerika-Aufenthalt verdankt. In Berlin hat Brisbane Hegel gehört. Und dann ist er auf ein Buch des FrühsozialistenCharles Fourier gestoßen, das ihm den größten Eindruck gemacht hat.
    »Brisbane beschreibt das ganz wunderbar. Er beschreibt, wie Fouriers Ausdruck Attraktive Industrie auf ihn gewirkt hat. Das war ja ganz unvorstellbar. Es ist heute noch unvorstellbar, dass etwas mit industrieller Produktion Zusammenhängendes anders als schäbig, schmutzig, ausbeuterisch und zerstörerisch sein könnte. Warten Sie, ich lese es Ihnen vor«, Arvid räuspert sich. Er schlägt die Seite in Brisbanes Buch auf, die er mit einem Papierchen markiert hat. »Ich sprang auf, warf das Buch zu Boden und begann in der höchsten Erregung auf und ab zu marschieren. Eine neue Welt ging vor mir auf. Ich sah eine gesunde und reiche Menschheit überall ihre geistigen Zentren, ihre Universitäten errichten. Welche gewaltige Revolution würde es bedeuten, wenn es gelänge, an die Stelle des niederdrückenden, entwürdigenden Schuftens, des traurigen Loses der Massen, das sie mit seinen prosaischen, verdummenden und verbildenden Einflüssen vollständig erdrückt, angenehme, nicht schändende und nicht entwürdigende Arbeit zu setzen. Das erste natürliche Resultat würde sein, dass alle arbeiteten und so die Mittel schüfen, die es allen erlauben würden, sich den heute nur wenigen offenstehenden wissenschaftlichen und intellektuellen Beschäftigungen hinzugeben.«
    Arvid sieht auf. Mildred ist hingerissen: Welch wunderbare wahre Vision. Ja, wenn keiner mehr wie ein Sklave schuften muss, wenn die Arbeitszeit auf acht Stunden am Tag begrenzt ist, wenn jeder über die nötigen Mittel verfügt, dann werden die Menschen von ganz allein frei und gut werden. Sie werden ihr Geld für gute Bücher und Theaterbesuche ausgeben, sie werden nach der Arbeit die Philosophen studieren, die großen
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