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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind
Autoren: S Friedrich
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Dichter lesen, ihre Seelen verfeinern, so dass endlich alle lernen, liebevoll und mitleidig miteinander umzugehen, stattstumpf und dumpf ein Leben lang nach nichts Höherem als dem nächsten Stückchen Brot zu trachten.
    Mildred sieht aber noch mehr. Sie sieht die tiefe Verbindung zwischen ihrer und Arvids Seele.
    Denn Brisbane ist schließlich nach Amerika zurückgekehrt. Dann ist er zu George Ripley gefahren und hat ihm die neuen Ideen unterbreitet. Ripley aber hatte damals gerade die Brook Farm gegründet, eine ideale Gemeinschaft von Arbeitern, Studenten und Lehrern, von Dichtern und Denkern und einfachen Leuten, die sich vom Land ernähren, in liebevoller Eintracht und persönlicher Freiheit miteinander leben und körperlich und geistig zusammen arbeiten wollten, in einer Oase der Harmonie, in der die Bedürfnisse der Seele und des Körpers miteinander in Einklang gebracht wären, so dass Brook Farm eines Tages als Modell für die ganze Welt dienen würde: Und Margaret Fuller, Mildreds Vorbild seit Jugendtagen, hat eine Weile auf dieser Farm gelebt.
    Nathaniel Hawthorne hat auf Brook Farm gelebt. Emerson ist zu Besuch gekommen. Alle neuenglischen Transzendentalisten sind dort gewesen, alle die Helden, die Mildreds Denken und Fühlen bestimmen, und nun ist also Arvids Albert Brisbane dazugekommen, die Verbindung ist unverkennbar. Arvid und Mildred sind seelenverwandt. Arvid ist Mildreds Freund, ihr Bruder. Er ist der, der neben ihr ausschreitet: Mildred liest Arvid Walt Whitman vor,
    Allons! after the great Companions, and to belong to them!
    Allons! through struggles and wars!
    Allons! the road is before us,
    Camerado, I give you my hand!
    I give you myself before preaching or law –
    Und haben sich nicht gerade die neuenglischen Transzendentalisten immer auf Deutschland berufen? Haben nichtgerade sie, die wahren Begründer der amerikanischen Literatur, viele ihrer Inspirationen aus Arvids Land bezogen? Margaret Fuller etwa, die Biografin Goethes,
    had seated herself beneath the great German oak, and gazed upon the growth of poesy, of philosophy, of criticism, of the drama,
    Margaret hat Goethes ›Tasso‹ in Englische übersetzt. Sie hat Goethes ›Gespräche mit Eckermann‹ übersetzt, die Arvids Vater in Deutschland herausgegeben hat: Otto Harnack war Literaturwissenschaftler, genau wie Mildred. Er hat ein Buch über Goethe geschrieben, das Arvid sich extra von seiner Mutter nach Amerika hat schicken lassen, um es Mildred schenken zu können,
    Otto Harnack: ›Goethe in der Epoche seiner Vollendung 1805–1832‹
    Mildred hat sich noch nie einem Mann so nah gefühlt. Arvid liest ihr Goethe vor. Er trägt Gedichte vor, auswendig. Arvid kann den halben ›Faust‹ auswendig,
    Die Sonne tönt, nach alter Weise,
    In Brudersphären Wettgesang,
    Und ihre vorgeschriebne Reise
    Vollendet sie mit Donnerklang.
    »Mein Vater hat sich übrigens ertränkt.«
    Arvid und Mildred sind auf dem Weg nach Palfreys Glen. Sie sind seit einer Stunde unterwegs. Arvid hat vorhin nach Mildreds Hand gegriffen. Sie hat sie ihm einen Moment überlassen, dann aber doch wieder entzogen. Sie haben Trinkwasser mitgenommen, sonst nichts. Wenn sie Hunger haben, werden sie irgendwo unterwegs an die Tür eines Farmhauses anklopfen und dort um etwas zu essen bitten. So ist es üblich, hier im Westen, wo Solidarität und Hilfsbereitschaft der Pionieresich noch erhalten haben: Das hat Mildrd Arvid erklärt. Man wird sie auf ein wenig Zimttoast einladen oder auf ein paar frische Waffeln, und wenn sie Glück haben, wird sich eine lange Unterhaltung mit den Farmersleuten ergeben, aus der man viel Praktisches und Wirkliches über das Leben lernen kann.
    »Mein Vater hat sich ertränkt und ist erst nach drei Wochen gefunden worden«, sagt Arvid.
    »Mein Vater ist erfroren«, sagt Mildred. »1918, ein furchtbarer Winter. Er war vorher auch verschwunden, aber nur ein paar Tage lang. Dann hat man ihn gefunden, unter einer meterhohen Schneeverwehung, in seinem Pferdestall, in dem keine Pferde mehr standen. Nichts war mehr da. Er hatte alles verkaufen müssen. Er war pleite. Er hat niemals für uns gesorgt. Das hat unsere Mutter getan. Unsere Mutter ist eine sehr starke Frau.«
    »Meine Mutter auch«, sagt Arvid. »Die Frauen müssen stark sein, vielleicht stärker als die Männer.«
    »Glauben Sie das?«, sagt Mildred. Sie bleibt stehen, sie ergreift seine Hand. »Glauben Sie das wirklich und ehrlich? Oder sagen Sie das nur?«
    »Ich glaube es«, sagt
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