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Wer stiehlt schon Unterschenkel: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition)

Titel: Wer stiehlt schon Unterschenkel: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition)
Autoren: Gert Prokop
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aus organischem Material. Aus ihnen ließen sich Mikrophon, Transistoren und Dioden herstellen, die störungsfrei mit dem Körpergewebe verwachsen und nur durch Zufall entdeckt werden können. Kabel und Schaltkreise für schwache, die Werte bioelektrischer Ströme nicht übersteigende Leitungen könnten in die Unterhaut oder die Muskulatur tätowiert werden, so ähnlich wie eine aufgedampfte Schaltung.
    Auf einem Oberschenkel zum Beispiel könnte man so eine Speicherkapazität anlegen, die ausreicht, zwanzig Stunden Gespräch aufzuzeichnen. Kurzum, ich vermute, daß einer von euch, ohne es zu wissen, in einen lebenden Recorder verwandelt wurde. Wer von euch hat, egal wann und wo, eine Transplantation bekommen?«
    Jerome P. Jerome hob als erster die Hand, dann Ironsides und eine noch ziemlich junge Frau sowie ein glatzköpfiger, beleibter Mann, in dem Timothy jetzt den vor Jahren spurlos verschwundenen stellvertretenden Stabschef der Armee zu erkennen glaubte.
    6.
    »Ich würde so gerne für einen Augenblick nach oben gehen«, sagte Timothy, als Anne ihn fortbringen wollte, »in der ’Blackhill Avenue‹ habe ich meine Kindheit verlebt, aber das geht wohl nicht?«
    »Jetzt wäre es zu gefährlich, Tiny. Wir beherrschen das Gebiet zwar nachts, aber bei Tageslicht kommen nicht selten Panzerstreifen hier durch.«
    »Das ist das traurige Los der Agenten«, seufzte Timothy. »Sonst traue ich mich nicht hin, weil ich Angst haben muß, von den eigenen Leuten als Spion gefaßt und hingerichtet zu werden, wenn ich von außen komme.«
    Auf dem Herweg waren sie in einer von der Stadtverwaltung aufgegebenen und vom UNDERGROUND wieder in Betrieb gesetzten U-Bahn-Strecke gekommen, jetzt fuhren sie mit einem Elektrowagen durch lange, zum Teil hell ausgeleuchtete Tunnel; einmal glaubte Timothy in einer Abzweigung die Lichter von Schaufenstern zu sehen und kurz darauf sogar einen Rummelplatz. Anne bestätigte ihm, daß er sich nicht getäuscht hatte.
    »Die Zeiten, da es hier nur Schlafräume, Magazine und Werkstätten in den alten Atombunkern und Stollen gegeben hat, sind längst vorbei. Wenn du nicht so lange mit Patrick verhandelt hättest, hätte ich dich schon gestern ein wenig durch die Unterstadt geführt; jetzt müssen wir uns im Club zur Verfügung halten.«
    Der Club erwies sich als eine äußerst behagliche Gaststätte mit einem Garten unter künstlichem blauem Himmel, in dem Blumen und sogar ein paar Bäume gediehen und dessen Speisekarte Timothy in Erstaunen setzte. Nach dem Essen führte Anne ihn in die Bibliothek, und es dauerte keine fünf Minuten, da hatte Timothy sich mit einem Armvoll Bücher in einer Ecke verschanzt; er sah erst auf, als Anne ihm eine Flasche Moselwein hinstellte. Er wollte das Buch beiseite legen, aber Anne winkte ab.
    »Lies nur«, sagte sie lächelnd. »Wir können uns in den nächsten Monaten und Jahren noch genug unterhalten.«
    »Hoffentlich«, erwiderte Timothy. »Obwohl ich jetzt keine Sorge mehr habe, daß ich mich hier UNTEN nicht wohl fühlen könnte.«
    »Aber, Tiny«, sagte Anne mit gespieltem Staunen, »und der Sonnenuntergang in der ’Stardust‹-Bar?«
    »Am liebsten bliebe ich hier und ließe das ganze ’Nebraska‹ samt Sonnenuntergang sausen.«
    »Und Napoleon?«
    »Ja, Napoleon!«
    Es war schon Abend, als sie gerufen wurden. Der künstliche Himmel hatte zwar keinen Sonnenuntergang simuliert, sondern war plötzlich dunkel geworden, aber zu Timothys Vergnügen tauchten jetzt Sterne und sogar die schmale Sichel des Mondes am offensichtlich naturgetreu nachgeahmten Nachthimmel auf.
    Sie fuhren zu einer anderen Katakombe, die aber aufs Haar der vom Schwarzen Berg glich. Als Patrick mit dem Leiter der medizinischen Untersuchungskommission und den vier Kandidaten hereinkam, bedurfte es keines Wortes, um mitzuteilen, wer die Drossel war.
    Ironsides schien in den vergangenen Stunden um Jahre gealtert zu sein. Der Held von Ironwood, dessen kluge, geduldige Arbeit und persönlicher Einsatz maßgeblich dazu beigetragen hatten, daß eine Welle von Streiks durch die Staaten lief und zu dem großen Aufschwung der revolutionären Bewegung führte, stand jetzt mit hängendem Kopf da, die Arme pendelten kraftlos von den Schultern. Ironsides gab sich einen Ruck, drückte das Kreuz durch, blickte von einem zum anderen, hob die Arme zu einer Geste der Hilflosigkeit, Tränen lösten sich aus seinen Augen; Timothy sah, daß sie auf der synthetischen Haut der linken Wange schneller herabrollten als
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