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Wer morgens lacht

Wer morgens lacht

Titel: Wer morgens lacht
Autoren: Mirjam Pressler
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tröstete mich und sagte, lass dir ja nicht einreden, dass du dumm bist, wer so etwas zu dir sagt, ist selber dumm. Seltsamerweise hatte Marie diese Anfangsschwierigkeiten in der Schule nicht, sie wurde erst später schlechter, in dem Maß, in dem ich besser wurde.
    Marie und ich hatten keine Freundinnen, Omi hat uns immer vor anderen Kindern gewarnt. Sie passen nicht zu uns, hat sie gesagt, und außerdem seid ihr zu zweit, das reicht. Ja, wir waren zu zweit, wir hatten eine die andere, und mehr war nicht nötig, bis Marie mit ungefähr zwölf anfing, nachmittags stundenlang einfach zu verschwinden, bevor sie mich später ganz im Stich ließ.
    Was für eine Rolle Omi für Marie gespielt hat, weiß ich nicht, Marie hat sich oft mit ihr gestritten, sie war frech zu ihr, hat sie sogar beschimpft, etwas, was ich, glaube ich, nie getan habe, trotzdem war sie Omis Lieblingsenkelin, das hat sie jedenfalls behauptet, später, und ich habe ihr geglaubt. Ich habe sogar nachträglich Bitterkeit gegen Omi empfunden, weil sie Marie mehr geliebt hatte als mich, und zu meinem ohnehin bestehenden Groll gegen Marie kam nun noch dieser neue hinzu.
    Omi ist mit siebenundsechzig gestorben, aber für uns war sie immer alt, älter als alle anderen Großmütter in unserer Gegend, älter als alle Frauen, die wir kannten. Vielleicht lag das ja an ihrer Kleidung, wer sonst trug schon Tag für Tag ein Kopftuch und wadenlange Röcke unter einer Kittelschürze, mal grau, mal dunkelblau, aber immer kleingemustert. Unsere Mutter hat oft versucht, sie zu anderen Anziehsachen zu überreden, wir sind hier nicht in Vierzighuben, hat sie gesagt, kannst du dir nicht endlich mal ein paar normale Kleider anschaffen?
    Als Antwort hat Omi nur den Kopf geschüttelt und gesagt, ich bin, wie ich bin, damit musst du dich abfinden, und vergiss nicht das vierte Gebot. Damit hat sie ihre Tochter, unsere Mutter, immer zum Schweigen gebracht.
    Es lag aber nicht nur an ihrer Kleidung, dass Omi alt aussah, sie hatte auch viele Falten. Besonders faltig war ihr Hals, an dem sich, bis sie operiert wurde, ein dicker Kropf wölbte, wie bei einem Truthahn. Bis dahin hatte ihr das Kettchen mit der wundertätigen Medaille eine zusätzliche Rille in ihren Hals gedrückt, nur der Wollfaden, an dem das Skapulier hing, war lang genug.
    Es gibt ein Foto von Omi und uns beiden. Ich bin noch sehr klein, etwa sechs, sieben Monate alt, wie meine Mutter meint, ich trage ein weißes Kleidchen über einer rosafarbenen Strampelhose, mit der rechten Hand umklammere ich Omis Zeigefinger und mit der linken zupfe ich an meinem Ohr. Omi war damals noch nicht operiert worden, auf dem Foto hängt ihr der Kropf unterm Kinn wie ein halb verschrumpelter Luftballon, und ihren geschwollenen Fingerknöcheln sieht man an, dass sie bereits damals an Rheuma litt, auch wenn ihre Hände noch nicht so verkrüppelt waren wie später, als sich die Knöchelchen unter ihrer Haut abzeichneten, rund wie die Perlen eines Rosenkranzes. Neben ihrem rechten Knie steht Marie in einem blauen Rock und einem weißen, kurzärmeligen T-Shirt und presst eine Barbiepuppe fest an die Brust. Keine von uns dreien lacht in die Kamera, ich sehe bestenfalls erstaunt aus, Omi ernst und seltsam würdevoll, und Marie hat auf diesem Bild schon jenen trotzigen, herausfordernden Ausdruck im Gesicht, der später so typisch für sie werden sollte.
    Dieses Foto steht heute noch im Wohnzimmer meiner Eltern, ihm gilt immer mein erster Blick, wenn ich sie besuche, als wäre ich erst dann angekommen, wenn ich weiß, dass es noch da ist, wenn ich weiß, dass Omi nicht vergessen wurde. Und wenn ich sehe, wie fest und sicher sie mich auf dem Schoß hält, erinnere ich mich daran, wie sie mich, als ich mir das Bein gebrochen hatte und mit den Krücken nicht zurechtkam, herumgetragen hat wie ein kleines Kind, und dabei muss ich damals fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein.
    Wir hatten schon immer mit Omi zusammengewohnt, in dem kleinen, bescheidenen Siedlungshaus nicht weit vom Allacher Forst. Ihre Eltern hatten es Mitte der Fünfzigerjahre gebaut, als ihr Vater eine feste Anstellung im Schlachthof gefunden hatte und sie selbst die Hauswirtschaftsschule besuchte. Die Jahre davor, von ihrer Flucht bis zum Bau des Hauses, hatten sie auch schon in Allach gewohnt, bei einem Schneider, zu dritt in einem kleinen Zimmer mit Küchenbenutzung, das neue Haus sei ihnen damals wie ein Palast vorgekommen, hat Omi immer gesagt.
    Meine Eltern leben noch heute
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