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Wer morgens lacht

Wer morgens lacht

Titel: Wer morgens lacht
Autoren: Mirjam Pressler
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in den zögernden, stockenden Gang von einer Straßenlaterne zur nächsten zurückfiel. Einmal sah sie eine Katze am Zaun entlangstreifen, eine zweite folgte ihr und beide verschwanden in einem Gebüsch.
    Sie war daran gewöhnt, auf ihrem Heimweg, wenn keine Busse mehr fuhren, diese Straßen für sich allein zu haben, tote Straßen, gleichförmige Häuser hinter gleichförmigen, gleichfarbigen Zäunen. Das Licht der Straßenlaternen reichte nicht aus, um die Vorgärten zu erhellen, mit deren Hilfe man die Grundstücke hätte unterscheiden können, minimale Unterschiede nur, hier Buchs, dort Thuja, hier Flieder, dort Forsythie.
    Sie bewegte sich von einer Straßenlaterne zur anderen, wurde abwechselnd von Goldmarie zu Pechmarie, ging vorbei an den wenigen am Straßenrand geparkten Autos, die meisten Häuser hier hatten Garagen. Kaum ein paar Fenster waren erleuchtet, die Wohnzimmer lagen fast alle nach hinten, zum Garten, deshalb war auch nur selten das Geflimmer eines Fernsehers zu erkennen. Sie betrachtete die dunklen Fenster, die dunklen Vorgärten und dachte, wie kann man nur so leben, Tag für Tag, Jahr für Jahr, bis man in dieser Öde stirbt. Allein bei dieser Vorstellung sträubten sich ihre Nackenhaare, alles, nur das nicht, und langsam begann ein Gedanke, der ihr in den letzten Monaten immer mal wieder gekommen war, Gestalt anzunehmen.
    Dann bog sie in die Straße ein, die womöglich noch verlassener war als die anderen, noch toter, die Straße mit dem Haus, in dem die Zeit stehengeblieben war. Man könnte es so, wie es ist, hochheben, dachte sie, und in Vierzighuben im Schönhengstgau wieder abstellen, dem Ort, den sie nur aus den Geschichten ihrer Großmutter kannte, dort würde es nicht auffallen, das Haus, höchstens durch den frischen Verputz und das Badezimmer, das ihr Vater noch vor ihrer Geburt in die Dachkammer eingebaut hatte, und vielleicht durch die Zentralheizung. Sie spürte, wie bei dem Gedanken an dieses Haus Langeweile auf sie herunterplatschte, als hätte jemand eine Schleuse am Himmel geöffnet, eine Langeweile, die sie zäh und klebrig und lähmend einhüllte, sodass sie feststeckte wie eine Fliege in einem Spinnennetz. Und sie wusste, dass sie sich, sosehr sie auch zappelte, nie aus dieser erdrückenden, tödlichen Langeweile befreien könnte, wenn sie nicht bald etwas dagegen unternahm.
    Was habe ich hier verloren, dachte sie. Sie gehörte nicht zu jenem Haus, in dem alles alt war, uralt, so alt, dass sie keine Worte dafür fand, so alt, dass allein der Gedanke sie erschauern ließ. Sie gehörte nicht zu diesen spießigen Eltern, die nie lachten und nie sangen, die Omis Drohung, wer morgens lacht und mittags singt, am Abend in die Hölle springt, tief, tief in sich trugen, auch wenn sie gar nicht mehr an die Hölle glaubten. Das war auch nicht nötig, sie hatten schon hier auf Erden ihre eigene, private Hölle aus Langeweile und zähen, grauen, eintönigen Tagen, sie lagen schon lange im Sterben, ohne es zu merken, eigentlich schon immer, vermutlich hatten sie überhaupt nie gelebt. Worüber sollten sie auch lachen, wenn es in ihrem Leben nichts zu lachen gab? Welche Lieder konnten sie singen, wenn sie nicht einmal das Gezwitscher der Vögel wahrnahmen, wenn ihre Welt nur aus Worten bestand, die an den Ohren vorbeirauschten, aus Worten, die nichts anderes bedeuteten als Schimpfen, Maulen, Meckern?
    Nein, sie hatte nichts mit ihnen zu tun, sie gehörte nicht zu ihrer Mutter, die nichts anderes im Kopf hatte als ihre Arbeit als Filialleiterin einer Bank, genauer gesagt einer Raiffeisenbank, eine kleine Filiale, nur zwei Schalter. Ihre Mutter bildete sich wer weiß was darauf ein, als ob das eine besondere Leistung wäre, ein hochgestecktes Lebensziel, das zu erreichen einen Menschen mit Stolz erfüllen könnte. Auch wenn sie damit, zugegeben, den Großteil des Lebensunterhalts für die Familie verdiente.
    Sie gehörte auch nicht zu ihrem Vater, der sich, nachdem er arbeitslos geworden war, nur noch für seine Hasen interessierte, Hasen, nichts als Hasen, der auf den nächsten Wurf einer Häsin wartete, weil ihm keine andere Hoffnung geblieben war, weil er keine Sehnsüchte mehr hatte, keine Erwartungen an das Leben. Sein größtes Glück waren gesunde, neugeborene Hasen, und natürlich die Whiskeyflasche. Er hatte sich in sein Schicksal gefügt, er hatte aufgegeben, auch wenn sie nicht wusste, was für Träume er gehabt hatte, als er so alt gewesen war wie sie, sie hatte ihn nie danach
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