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Wer morgens lacht

Wer morgens lacht

Titel: Wer morgens lacht
Autoren: Mirjam Pressler
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haben wir ihnen nachträglich eine gute Sterbestunde gewünscht.
    Warum fällt mir jetzt nichts anderes ein, verdammt noch mal, habe auch ich all die Freude vergessen, so wie sie sie vergessen hat? Es gab doch auch Wärme und Geborgenheit, zumindest solange unsere Omi noch gelebt hat. Gut, unsere Omi war keine strahlende Flamme, keine Festbeleuchtung, keine bunte Lichterkette, keine flackernde Neonröhre und erst recht keine Diskokugel, sie war eher wie Kerzenlicht oder wie wärmendes Herdfeuer. Oder vielleicht wie der Kachelofen, den sie früher hatten, dahaam in Vierzighuben. In unserem Haus gab es keinen Kachelofen, dafür hat der Platz nicht gereicht, aber es gab, neben dem Elektroherd, einen richtigen Küchenherd für Holz und Kohlen, den wir im Winter mit Holzscheiten fütterten und der eine angenehme Wärme verströmte, vor allem, wenn es draußen stürmte und schneite. Wir waren die Einzigen in der Nachbarschaft, die solch einen Herd hatten. Diesen Herd gibt es immer noch, er hat Omi überlebt, er wird meine Eltern überleben und vermutlich sogar mich.
    Nein, mit diesem Anfang komme ich nicht weiter. Das Problem ist, dass ich den eigentlichen Anfang nicht weiß, vielleicht war ich dafür zu jung, ich kann ihn jedenfalls nicht erkennen, sosehr ich mich auch bemühe, er verschwindet vor meinen Augen in einem trüben Nebel, und wenn manchmal ein dunkler Schatten auftaucht und ich denke, jetzt, das ist es, wenn ich die Hand ausstrecke und hoffe, etwas Greifbares zu erwischen, ist der Schatten auch schon wieder weg.
    Du musst den heiligen Antonius um Hilfe bitten, der Heilige hilft dir beim Suchen, höre ich Omi sagen. Das Echo ihrer Stimme werde ich nicht los, will es auch gar nicht, obwohl der heilige Antonius mir nichts bedeutet, er hat immer nur ihr geholfen, wenn sie etwas verlegt hatte, ich konnte ihn noch so oft anrufen, es hat mir nichts genutzt. Er war ihr Heiliger, nicht meiner, er gehörte zu jenem Teil ihrer Welt, zu dem ich keinen Zutritt hatte, diese Tür blieb mir verschlossen, und erst recht die Tür hinter der Tür, die zum verlorenen Paradies führte.

Drei
    Mit unserer Großmutter anzufangen, der Mutter unserer Mutter, wäre natürlich das Einfachste, es bietet sich an, doch zugleich begebe ich mich damit auf dünnes Eis. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob das alles so war, wie ich damals annahm, es ist möglich, aber es könnte auch anders gewesen sein. Ich weiß oft nicht, wo die Grenze zwischen Fantasie und Wirklichkeit verläuft, zwischen wahren und eingebildeten Gefühlen, manchmal sogar nicht zwischen wahren und eingebildeten Ereignissen. Wo es bei anderen Menschen eine eindeutige Trennungslinie zu geben scheint, ist diese Grenze bei mir, glaube ich, eher eine verwischte Schlangenlinie, eine Grauzone, in der ich mich rettungslos verirren könnte, wenn ich nicht aufpasse.
    Unsere Omi war das Zentrum des Hauses, unsere eigentliche Bezugsperson, um die sich in unseren ersten Jahren alles gedreht hat. Wir waren immer zusammen, Omi, Marie und ich. Unsere Mutter hat sich nur für ihre Arbeit interessiert. Omi war es, die mich in den Kindergarten brachte und abholte, weil unsere Mutter auf dem Kindergarten bestand, obwohl ich jeden Tag weinte und bettelte, nicht hingehen zu müssen. Und vermutlich hatte sie vor mir auch Marie hingebracht. Sie saß an unserem Bett und machte uns Wadenwickel, wenn wir Fieber hatten. Sie hat uns alles gelehrt, was wir über Pilze wussten, sie hat uns gezeigt, wie man sät und junge Pflanzen pikiert, sie hat uns, Marie und mich, auf Käfer und Schmetterlinge aufmerksam gemacht, auf Ameisenstraßen und Schneckeneier, die wie winzige weiße Ostereier aufeinandergehäuft in einem Nest aus feuchter Erde lagen. Ich bin überzeugt, von ihr die Liebe zu allem Kleinen, Unauffälligen gelernt zu haben.
    Sie hat mir das Stricken beigebracht, als ich mich im Handarbeitsunterricht so ungeschickt anstellte, dass die Lehrerin verzweifelt sagte, so ein dödeliges Mädchen sei ihr noch nie im Leben begegnet, und mich mit Marie verglich, die ebenfalls ihre Schülerin gewesen war und natürlich großartig gestrickt hatte. Ich habe letztlich stricken gelernt, aber nur so viel, wie unbedingt nötig war, keine einzige Masche zusätzlich. Omi hat mir auch in den ersten zwei Jahren bei den Hausaufgaben geholfen, weil ich es einfach nicht hinbekam, so ordentlich zu schreiben wie die anderen Kinder, und außerdem große Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung hatte. Sie übte mit mir und
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