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Wer Liebe verspricht

Wer Liebe verspricht

Titel: Wer Liebe verspricht
Autoren: Rebecca Ryman
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»vielleicht waren es keine leeren Gesten. Vielleicht bedeuteten sie für ihn etwas, auch wenn sie mir nichts bedeuteten. Ich weiß es nicht. Ich werde es auch nie erfahren. Ja, er hätte mich zu Tode peitschen können. Ich hatte es erwartet. Es überraschte mich, als er es nicht tat. Und es stimmte, er schoß bewußt daneben.« Er lachte leise. Es klang beinahe belustigt. »Vielleicht verfehlte er zum erstenmal in seinem Leben ein Ziel. Er war ein bemerkenswert guter Schütze.«
    »Auch du hättest ihn erschießen können«, erinnerte ihn Olivia.
    »Ja.« Mehr sagte er nicht und erklärte er nicht. »Ich hätte für ihn, für sie, für seine Frau, immer nur Haß empfinden können. Mehr oder weniger haben sie alle meine Mutter umgebracht. Auch Ransome, obwohl er ein anständiger Mann ist. Und doch …« Er stand auf und entfernte sich von ihr. Dann blieb er stehen und starrte in die dunkle, stumme, endlose Nacht. »Und doch, wenn ich manchmal sehr allein war, wenn ich verloren, verwirrt um meine Orientierung rang, wenn ich daran dachte, daß ich ihn einst bewundert hatte, fragte ich mich, wie es vielleicht gewesen wäre, wenn ein Mann wie Sir Joshua Templewood mich ›Sohn‹ genannt hätte …«
    Die Haare in Olivias Nacken sträubten sich. Die plötzliche Eiseskälte lähmte sie. Die Parallele in seinen Worten konnte ihr nicht entgehen. Eines Tages und ebenfalls dann, wenn er allein, verloren und verwirrt nach einer Orientierung suchte, würde sich auch Amos fragen, wie es wäre, wenn ein abwesender Vater ihn ›Sohn‹ nennen würde. In ihrer Vorstellung sah Olivia die taubengrauen Augen von Amos, die sich verdunkelten, während er mit denselben Gefühlen kämpfen mußte – Zorn, Haß, bittere Vorwürfe, heftiger Unmut, Staunen. Amos – ebenso groß und trotzig, mit einer ähnlichen Gestalt –, würde er den Verlust auch so empfinden? Würden Jais Hunger nach Anerkennung und Wärme, sein Gefühl, verstoßen worden zu sein, auch Amos nicht erspart bleiben?
    Nichts, was sie Amos geben würde, konnte das ersetzen, was man ihm genommen hatte. Olivia sah die Parallele und erstarrte. Argwohn und erneute Angst schüttelten sie.
    Er hat das bewußt gesagt!
    Mit dieser List wollte er sie von ihrem Sohn trennen. »Amos ist nicht wie du! Er hat wenigstens einen Namen. Er wird nie an seiner Identität zweifeln!« rief sie.
    Jai zuckte zusammen, erschreckt von ihrer plötzlichen Grausamkeit. »Ja«, sagte er betroffen, »dafür hast du gesorgt.«
    » Ich werde ihn Sohn nennen. Das wird ihm genügen.«
    Er begriff ihre Angst und versuchte, sie zu beruhigen. »Ich weiß. Es wird genügen. Warum zweifelst du daran?«
    Ihre quälenden Gedanken zwangen sie, noch deutlicher zu werden. »Ich möchte klarstellen, daß du nie ein Recht auf Amos hast, nie .«
    »Ich stelle weder jetzt Ansprüche noch in Zukunft.« Er blickte hilflos auf seine Füße. »Ich werde nicht versuchen, dich noch einmal von ihm zu trennen. Du hast mein Wort. Ich habe keinen Platz in deinem Leben, Olivia. Und ein Kind sollte eine Mutter haben – wenigstens eine Mutter.«
    Mit einem leisen Aufschrei schlug sie die Hände vors Gesicht. Olivia konnte die eigentliche Ursache ihrer Qualen nicht länger leugnen. Sie sah deutlich, wo sie sich befand – sie stand wieder an einer Kreuzung. Es war dunkel, und sie konnte den Weg nicht sehen. Aber sie wußte, es gab mehr als einen Weg. Wieder einmal war sie allein. Kalte Winde rissen sie in unterschiedliche Richtungen. Schnee nahm ihr die Sicht, und im dichten Treiben der Flocken hatte sie sich verirrt. Die Elemente tobten in einem schrecklichen Sturm. Trotz Aufbietung all ihrer Willenskraft konnte sie sich nicht gegen diese Kräfte behaupten. Wo war ihre Substanz? Ihre Entschlossenheit, die unfehlbare Logik, der klare Verstand, auf den sie so stolz war? In panischer Angst suchte sie danach, und in stummer Verzweiflung fand sie nichts.
    Dann legte sich der Sturm mit der Anmut eines Sonnenuntergangs. Die heulenden Winde beruhigten sich, das Schneetreiben ließ nach. Über ihr erstrahlte klar und rein der Himmel; so still und heiter wie ein ländlicher Wiesenpfad lag der Weg vor ihr. Und Olivia wußte, ihn mußte sie einschlagen. Tiefer Friede erfaßte sie. Und in dieser heiteren Gelassenheit senkte sich mit der Zartheit eines fallenden Blütenblatts eine Entscheidung in ihr Herz. Olivia staunte über die Mühelosigkeit, mit der sie zu dieser Entscheidung gekommen war. Und dann sah sie, diese Lösung hatte sich
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