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Wer hat Angst vorm boesen Wolf

Wer hat Angst vorm boesen Wolf

Titel: Wer hat Angst vorm boesen Wolf
Autoren: Karin Fossum
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gab auf und versuchte, durch tiefe Konzentration seinen Herzrhythmus zu verlangsamen. Er hatte gehört, die alten Indianer hätten diese Technik beherrscht, doch bei ihm löste die tiefe Konzentration nur noch heftigere Schweißausbrüche aus. Und dann hörte er draußen schlurfende Schritte. Die Tür wurde geöffnet, und ein fetter Junge von vielleicht zwölf kam herein. Der Junge keuchte und blieb stehen. In der Hand hielt er einen flachen, grauen Koffer von leicht ungewöhnlicher Form. Vielleicht enthielt er ein Musikinstrument, eine Harfe zum Beispiel. Obwohl dieser Bursche so gar keine Ähnlichkeit mit einem Harfner hat, dachte Gurvin. Er musterte den Jungen aufmerksamer. Der Knabe war wirklich ungewöhnlich fett, Arme und Beine ragten von seinem Rumpf weg, so, als sei er mit Gas vollgepumpt worden und könne jeden Moment abheben. Seine Haare waren braun, dünn und fettig und klebten in dünnen Strähnen an seinem Kopf. Er war barfuß und trug verwaschene, abgeschnittene Jeans und ein verdrecktes T-Shirt. Sein Mund stand vor Aufregung halb offen.
    »Na?«
    Robert Gurvin, Chef der ländlichen Polizeidienststelle, schob seine Papiere beiseite. Er hatte im Moment nicht viel zu tun und freute sich über Besuch. Und jetzt konnte er sich an diesem ungewöhnlichen Anblick gar nicht satt sehen.
    »Kann ich dir irgendwie behilflich sein?«
    Der Junge trat einen Schritt vor. Er keuchte noch immer, und er schien etwas auf dem Herzen zu haben, das er sofort loswerden mußte. Gurvin rechnete mit etwas in der Größenordnung eines gestohlenen Fahrrades. Die Augen des Jungen glänzten, und er zitterte so heftig, daß der Beamte unwillkürlich an ein heißes Soufflé im Backofen denken mußte, das jeden Moment zusammenfallen wird.
    »Halldis Horn ist tot!«
    Die Stimme balancierte auf der Kippe zwischen heller Kinderstimme und dem dunkleren Tonfall des angehenden Mannes. Es klang wie ein kräftiger Katarrh, der dringend behandelt werden müßte. Der Junge fing im Baß an, schlug aber bei dem Wort »tot« ins Falsett um.
    Der Beamte lächelte nicht mehr. Er musterte den Jungen verwundert und mochte vorerst seinen Ohren noch nicht trauen. Er kniff die Augen zusammen und zupfte sich an den Nackenhaaren.
    »Was sagst du da?«
    »Halldis ist tot. Sie liegt auf ihrer Türschwelle.«
    Der Junge sah aus wie ein tapferer Soldat, der als einziger ins Lager zurückkommt und den entsetzlichen Verlust der gesamten Truppe meldet. Bis ins Mark erschüttert, aber mit einer Art mühsam erkämpfter Würde dem Oberkommando gegenüber hatte er nun seine Botschaft übermittelt.
    »Setz dich, Junge!« befahl der Beamte und nickte zu dem leeren Sessel hinüber. Der Junge blieb stehen.
    »Du meinst doch die Frau von dem Hof oben in Finnemarka?«
    »Ja.«
    »Kommst du jetzt von dort?«
    »Ich bin da vorbeigegangen. Sie liegt auf der Türschwelle.«
    »Bist du ganz sicher, daß sie tot ist?«
    »Ja.«
    Gurvin runzelte die Stirn. Diese Hitze konnte wirklich jeden um den Verstand bringen.
    »Hast du sie untersucht?«
    Der Junge starrte ihn ungläubig an, die bloße Vorstellung schien ihn an den Rand einer Ohnmacht zu treiben. Er schüttelte den Kopf. Bei dieser Bewegung lief ein Zittern über seinen umfangreichen Körper wie eine Welle.
    »Du hast sie nicht angerührt?«
    »Nein.«
    »Woher willst du dann wissen, daß sie tot ist?«
    »Ich bin sicher«, keuchte der Junge.
    Der Beamte zog den Kugelschreiber aus seiner Brusttasche und machte eine Notiz.
    »Und wie heißt du?«
    »Snellingen. Kannick Snellingen.«
    Der Beamte schaute auf. Der Name war so wunderlich wie der Junge und paßte eigentlich gut zu ihm. Gurvin verriet mit keiner Miene, was er von der Namensgebung der alten Snellingens hielt.
    »Du bist wirklich auf Kannick getauft? Das ist kein Spitzname? Oder eine Abkürzung für Karl Henrik oder so?«
    »Nein, ich heiße Kannick. Mit ck.«
    Gurvin schrieb mit weiten Schnörkeln und elegantem Schwung.
    »Du mußt meine Überraschung schon verzeihen«, sagte er höflich. »Es ist ein ungewöhnlicher Name. Dein Alter?«
    »Zwölf.«
    »Und Halldis Horn ist also tot, hast du gesagt?«
    Kannick nickte. Er atmete immer noch schwer und trat ungeduldig von einem nackten Fuß auf den anderen. Sein Koffer stand neben ihm auf dem Boden. Er war von Aufklebern übersät. Gurvin registrierte ein Herz und einen Apfel und zwei ihm unbekannte Namen.
    »Und du machst wirklich keine Witze?« »Wirklich nicht.«
    »Auf jeden Fall rufe ich erst einmal an, mal sehen,
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