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Wer hat Angst vorm boesen Wolf

Wer hat Angst vorm boesen Wolf

Titel: Wer hat Angst vorm boesen Wolf
Autoren: Karin Fossum
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auffahren, aus dem Haus stürzen und die Konsequenzen vergessen lassen. Er schloß die Augen und sah einzelne Bilder vor sich. Er sah seine Mutter am Fuß der Treppe liegen. Aus ihrem Mund wurde rotes, heißes Blut gepumpt. Dick und rund in ihrer großgeblümten Kittelschürze, kam sie ihm vor wie eine umgekippte Kanne, aus der rote Soße fließt. Er dachte an ihre Stimme. Der immer ein dunkler Flötenton gefolgt war. Langsam ging er wieder ins Haus.

DAS IST ERRKIS GESCHICHTE.
    So fing sie an: Um drei Uhr nachts verließ er die Anstalt. Wir reden nicht von Anstalt, Errki, und auch wenn du dieses Haus in deinem privaten Universum nennen kannst, wie du willst, mußt du doch auch an andere denken und eine andere Bezeichnung benutzen. Das nennt man Rücksichtnahme. Oder Takt, wenn du willst. Hast du davon je gehört?
    Sie wußte ihre Worte wirklich wohl zu setzen, er hatte das Gefühl, daß alles aus ihr herausfloß wie Öl. Und nach den Worten kam ihr Geräusch, eine schrille Hammondorgel.
    Das Haus heißt Wegweiser, sagte er daraufhin mit säuerlichem Lächeln. Wir hier im Wegweiser, eine große Familie. Das Telefon klingelt, hier Haus Wegweiser, ja bitte? Kann jemand die Post für das Haus Wegweiser holen?
    Genau. Das ist einfach eine Frage der Gewohnheit. Jeder muß ein wenig Rücksicht nehmen.
    Ich nicht, erwiderte er mürrisch. Ich bin nicht freiwillig hier. Ich bin ein Paragraph-5-Fall, einer, der sich und möglicherweise andere gefährdet.
    Er beugte sich vor und flüsterte ihr ins Ohr: Weil ich im Dreck
    stecke, kannst du auf Gehaltsstufe zweiundzwanzig herumtanzen.
    Die Nachtwache zitterte. Es gab einen Zeitpunkt, an dem sie sich wehrlos fühlte. Und zwar dieses Niemandsland zwischen Nacht und Morgen, ein graustichiger Leerraum, wo die Vögel verstummten und wo man nie wußte, ob sie je wieder singen würden. Wo alles möglich war, wo sie nicht wußte, was nun kommen mochte. Sie ließ die Schultern sinken und war plötzlich erschöpft. Brachte nicht die Kraft auf, seinen Schmerz zu sehen, zu bedenken, wer er war. Daß er sich in ihrer Obhut befand. Sie fand ihn nur widerlich, selbstsüchtig und häßlich.
    Das weiß ich auch, fauchte sie. Aber du bist schon seit vier Monaten hier, und soviel ich weiß, gefällt es dir ganz gut.
    Das sagte sie mit hühnerschnabel spitzem Mund. Die Orgel schlug einen schrillen Akkord an.
    Und er lief los. Das war wirklich keine große Leistung. Es war eine warme Nacht, und das Fenster stand einen fünfzehn Zentimeter breiten Spalt offen. Es war zwar mit einem Stahlbügel befestigt, aber dieses Problem löste er, indem er den ganzen Bügel demontierte. Dazu benutzte er seine Gürtelschnalle. Die Schrauben glitten locker aus dem morschen Holz, das Haus war über hundert Jahre alt. Sein Zimmer lag im Erdgeschoß. Leicht wie ein Vogel sprang er aus dem Fenster und landete auf dem Rasen.
    Er nahm nicht den Weg über den Parkplatz, sondern lief in den Wald und dann weiter zum Weiher, den sie »Brunnen« nannten. Ihm war es egal, wohin er ging. Nur im Haus Wegweiser wollte er nicht länger bleiben.
    Der Weiher war schön. Spielte sich nicht auf, lag einfach spiegelglatt da. Ruhte in der Landschaft, offen und still. Stieß ihn nicht ab, lockte ihn nicht zu sich. Berührte ihn nicht. War einfach. Die Anstalt lag nur einen Steinwurf entfernt, aber wegen der Bäume konnte er sie nicht mehr sehen. Nestor bat ihn, einen Moment stehenzubleiben, was er auch tat. Er starrte in den schwarzen Brunnen. Mußte plötzlich an Tormod denken, der hier gefunden worden war, mit dem Gesicht nach unten, wie immer mit Gummihandschuhen, die blonde Mähne wogend im grauschwarzen Wasser. Kein schöner Anblick, aber den hatte er nie geboten. Er war fett und träge gewesen, mit blassen Augen und außerdem dumm. Ein schlaffer Widerling, der alle um Verzeihung bat, der Angst hatte, andere anzustecken, ihnen im Weg zu sein, sie mit seinem stinkenden Atem anzuhauchen. Jetzt war der arme Wicht zu Gott heimgekehrt. Vielleicht hing er auf einer Wolke herum, endlich befreit von den glitschigen Handschuhen. Vielleicht traf er dort oben die Mutter, vielleicht schaukelte sie auf der Nachbarwolke. Er hatte seine Mutter geliebt. Beim Gedanken an Tormods unsteten Blick und die blonden Wimpern mußte er heftig schlucken. Gereizt schüttelte er sich und ging weiter.
    Die dunkle Gestalt war vor dem hellgrünen Hintergrund sehr gut zu sehen, aber niemand sah sie. Die anderen schliefen noch. Und ein Neuer hatte Tormods Platz
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