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Wer Boeses saet

Wer Boeses saet

Titel: Wer Boeses saet
Autoren: Olivier Descosse
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hat mir alle Einzelheiten erzählt.«
    »Warum hast du nicht mit mir darüber gesprochen?«
    »Oma wollte das nicht. Sie hat mich schwören lassen, dass das unter uns bleibt. Sie war der Meinung, man könnte dir das nicht zumuten.«
    Da schien sich etwas zu wiederholen. Gabrielle Marchand hatte es vorgezogen, ihrer Enkelin zu vertrauen. Sie fand sie stärker als ihren Sohn.
    Das junge Mädchen schlug die Beine übereinander.
    »Von diesem Tag an habe ich verstanden, wie du so tickst. Durch deine Lüge sollte nicht ich geschützt werden, sondern du geschont. Du wusstest, dass es deine Schuld war, aber du hast sie nicht auf dich genommen. Deine Schuldgefühle, der Kampf, den du führtest, um dich gewissermaßen freizukaufen … daran hast nur du allein geglaubt.«
    Sie räusperte sich, als würde sie das, was noch folgen sollte, nur schwer herausbringen.
    »Soll ich dir was sagen? Dass du Bulle geworden bist, hat nur mit deinem Stolz zu tun. Du wolltest dich beweisen. Wolltest diese total durchgeknallten Typen in die Mangel nehmen, dich mit ihnen messen. Mama ist dir egal, genau wie ich. Das Einzige, was für dich zählt, bist letztlich nur du selbst.«
    Eine Gerade direkt ins Gesicht. Für Charlotte war er ein Egoist, einzig und allein von seinem Narzissmus getrieben. Wie sollte er ihr beweisen, dass sie sich täuschte? Wie sollte er sie davon überzeugen, dass er sie liebte?
    Sie ließ ihm keine Gelegenheit dazu.
    »Ich habe dich gehasst. Ich habe mir gewünscht, du wärest an ihrer Stelle gestorben. Dann würdest du von den Würmern aufgefressen statt von deinen falschen Gewissensbissen. Aber die Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen … Am Ende war ich es, die dabei draufging.«
    François wusste ja von der Seeklinik. Er ließ sie aber weiterreden, um ihre Version kennenzulernen.
    »Es geschah nach deiner Abreise in die Vereinigten Staaten. Ich hatte einen tetanischen Anfall, wie ich noch nie einen gehabt hatte. Zum Glück war ich gerade bei Oma gewesen. Ich konnte mich nicht mehr bewegen, konnte nicht mehr sprechen, hatte das Gefühl, in einen bleiernen Sarg eingesperrt zu sein. Sie hat mich in eine Privatklinik einweisen lassen. Unter einem falschen Namen, damit du nichts merkst. Ich bin einen Monat dort geblieben. Dreißig Tage mit Depressiven, von denen die meisten selbstmordgefährdet waren. Ich hatte Zeit zum Nachdenken. Und für interessante Begegnungen.«
    »Justine?«
    »Ein Mädchen, das nur noch aus Schmerz bestand und das sich so quälte, dass es mir Angst machte. Sie wollte sterben. Sie war besessen davon. Anfangs hatte ich noch versucht, ihr zu helfen. Ich las alles über diese Krankheit und gab ihr schwachsinnige Ratschläge. Dann begriff ich, dass ich nichts tun konnte, außer ihr zuzuhören. Und je mehr sie sich mir anvertraute, desto mehr dachte ich über mich selbst nach. Ich sah mit Schrecken, was mich über kurz oder lang erwartete. Ich war keine Anorektikerin, aber das lief aufs Gleiche hinaus. Mein ganzer Schmerz verwandelte sich nach und nach in Wut. Eine Wut, die ich gegen mich selbst richtete. Meine Starrkrampfanfälle waren der Beweis dafür. Eines Tages, das wusste ich, würde ich auf die Schnauze fallen.«
    Sie nahm eine andere Haltung ein und verschränkte die Arme vor der Brust. Das knarrende Geräusch des Leders erinnerte François an andere Sitzungen, an andere Momente des Schweigens. Ein paar Sekunden lang vergaß er, dass es seine Tochter war, der er da zuhörte.
    »Ich verließ die Klinik und kehrte nach Hause zurück. Ich war verloren. Wie üblich warst du nicht da. Ich glaube, dass ich trotz meiner Enttäuschung und trotz meiner Wut immer noch auf dich gewartet habe …«
    Dann war es still. Diese Stille sagte mehr als alle Tränen. François spürte ein Stechen in den Augen.
    »Schließlich nahm ich die Dinge hin, wie sie waren«, fuhr Charlotte fort. »Mein Leben war am Arsch. Mir blieb nur noch eine Gnadenfrist. Das war deine Schuld, und deshalb solltest du auch dafür zahlen. Und für den ganzen Rest … Ich suchte nach einem Mittel. Ich wollte dich ins Mark treffen. Deine Gewissheiten ins Wanken bringen. Eines Tages wusste ich, wie ich es anstellen konnte. Dein neuer Beruf. Du warst ein psychoanalytisch geschulter Bulle oder ein kriminalistisch geschulter Psychoanalytiker – wie auch immer. Jedenfalls hast du in beiden Fällen die menschliche Seele erforscht. Nur ging es jetzt um die Allerschwärzesten. Um die, bei denen der Wahnsinn zum Mord führte, bis zur
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