Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer Boeses saet

Wer Boeses saet

Titel: Wer Boeses saet
Autoren: Olivier Descosse
Vom Netzwerk:
mir übers Internet besorgt hatte, liefen wir überhaupt keine Gefahr.«
    Marchand starrte seine Tochter ungläubig an. Trotz der Umstände war er immer noch überrascht über ihre Intelligenz und ihre Reife. Sie hatte ihr Leid kanalisiert, hatte es sich zunutze gemacht und war mit unglaublicher Geschwindigkeit erwachsen geworden. Sie hatte sogar die Grundlagen des psychoanalytischen Diskurses integriert und gelernt, eine bestimmte Art von Abstand zu wahren, wie es Therapeuten tun. Aufgrund ihrer Posts in Justines Blog hatte er auf eine ältere Frau geschlossen.
    Er fragte:
    »Wie wurden die Opfer ausgewählt?«
    »Es mussten Jugendliche sein. Vorzugsweise solche mit Problemen. So konnten wir euch am besten ins Grübeln bringen. Ein Pädophiler? Ein Erzieher? Ein Priester? Und warum nicht ein Psychoanalytiker? Sag mir bloß nicht, daran hättest du nicht gedacht!«
    François fühlte sich bloßgestellt. Charlotte war in seinen Kopf eingedrungen. Sie hatte sich seiner eigenen Waffen bedient und diese gegen ihn gerichtet. Er war vor allem Psychoanalytiker. Sie wusste, dass er sich auf diese Art von Indizien stürzen und dann versuchen würde, den Rest damit in einen Zusammenhang zu bringen.
    Eine Frage brannte ihm noch auf den Lippen.
    »Ihr kanntet eure Opfer persönlich. War das nicht riskant?«
    »Wir mussten nur ein paar Vorsichtsmaßnahmen beachten. Und das haben wir getan.«
    »Ihr hättet euch die Leute auch zufällig aussuchen können.«
    »Nein, wir mussten Kontrolle über sie haben, sie sollten ja freiwillig zu den Orten kommen, die wir ausgesucht hatten.«
    »Wie habt ihr das gemacht?«
    »Das Begehren, mein kleiner Papa. Ein Motor ohnegleichen, wahrscheinlich der stärkste überhaupt, das hast du immer zu mir gesagt hast. Maxime hat Lucie vorgeschlagen, an einem ganz besonderen Ort Fotos zu machen. Sie sind mit dem Scooter hingefahren. Rémi hat behauptet, in der Verbrennungsanlage werde eine satanistische Zeremonie abgehalten. Er hat Pierre hingefahren. Jean hat behauptet, er kenne einen Dealer, der in der Nähe des Sees was ganz Verrücktes vorhabe. Sein Drogenfreund ist sofort darauf angesprungen. Und was mich angeht … Ich habe nur die Tür aufdrücken müssen, denn Justine erwartete mich ja bereits.«
    Der Polizist senkte besiegt den Kopf.
    »Chapeau! Um ein Haar hätte das Ganze geklappt.«
    Charlotte wirkte erstaunt.
    »Aber es hat doch geklappt! Wir sind hier, oder etwa nicht? Und wir haben endlich mal richtig miteinander geredet. Ist das nicht das Wichtigste?«
    François’ Herz krampfte sich zusammen. Sie wirkte so aufrichtig, so verletzlich.
    »Charlotte, du musst …«
    »Erinnerst du dich an das, was Mama immer sagte?«
    »In welchem Zusammenhang?«
    »Wenn sie von uns sprach. Drei kleine Kobolde im Zauberwald.«
    »Worauf willst du hinaus?«
    »Sie dachte, unsere Seelen gehören zu diesem Ort. Glaubst du das auch?«
    Er antwortete mit zugeschnürter Kehle:
    »Ja, das glaube ich.«
    Sie schien beruhigt.
    »Ich auch. Ihre Seele ist schon hier. Sie wartet nur noch auf unsere.«
    François brauchte einen Moment, bis er begriff, was sie meinte. Aus dem Nichts tauchte die kalte Mündung einer .45er auf und sah ihn mit erloschenem Auge an. Wie war sie an diese Waffe gekommen?
    Er stammelte:
    »Was machst du denn da?«
    »Gib mir deine Waffe.«
    »Na hör mal, Charlotte …«
    »Na los, mach schon!«
    Robotergeste. Eisige Berührung mit dem Metall. François legte seine Glock auf den Boden.
    Charlotte nahm sie an sich. Sie richtete sich wieder auf, steckte die Waffe in ihren Gürtel und warf ihrem Vater einen herausfordernden Blick zu.
    »Ich werde wiedergutmachen, was du kaputt gemacht hast. Der Tod hat uns getrennt. Nur er kann uns wieder vereinen.«
    Zum ersten Mal spürte François den sauren Saft der Angst durch seine Adern laufen. Charlotte hatte nie auf Hilfe von ihm gehofft. Sie hatte vorgehabt, ihn zu töten und sich dann selbst umzubringen.
    Sie bestätigte seine Befürchtungen.
    »Du wirst sterben, mein kleiner Papa. Und ich auch. Was mich angeht, ist mir das völlig gleichgültig. Ich bin schon lange tot.«
    68
    Ein Augenblick der Starre.
    Ein Mann, der ängstlich die auf ihn gerichtete Automatikwaffe anstarrt. Ihm gegenüber ein junges blondes Mädchen mit weit aufgerissenen Augen.
    Seine Tochter.
    An die Wand geworfen das Gesicht einer ihnen zulächelnden Frau. Das Bild einer Abwesenden, mit ihrer erdrückenden Präsenz. Sie ist ihre Verbindung. Das verbindende Element. Aber auch der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher