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Wer Blut vergießt

Wer Blut vergießt

Titel: Wer Blut vergießt
Autoren: Deborah Crombie
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Gesicht bleich vom Schock und mit Asche beschmiert, aber gleichwohl sah sie bezaubernd aus. Volle Lippen, gerade Nase, hohe Wangenknochen – es war ein Gesicht, dem das Alter wenig anhaben konnte. Doch es waren ihre Augen, die Gemma am meisten fesselten. Tiefgründige, dunkle, intelligente Augen, in denen ein tiefer Schmerz lag, aber auch, selbst in dieser Situation, ein Funken Humor.
    Nadine blickte auf und schenkte Gemma und Melody ein zögerliches Lächeln. »Ich glaube, ich muss mich bei Ihnen beiden bedanken«, sagte sie mit heiserer Stimme. »Und bei Andy. Sind Sie sicher, dass er nicht schwerer verletzt ist?«
    »Es geht ihm gut«, versicherte Gemma ihr. »Er hat nur eine Platzwunde am Kopf, die versorgt werden muss. Sieht viel schlimmer aus, als es ist. Nun …« Sie zog sich einen Plastikstuhl ans Bett, während Melody am Vorhang stehen blieb. »Nadine – darf ich Nadine zu Ihnen sagen? –, ich glaube, ich verstehe zum Teil, was heute passiert ist. Andy erhielt eine Nachricht, die vorgeblich von Ihnen war, tatsächlich aber von Joe Peterson kam, der Andy an einen Ort locken wollte, wo er ihn leicht überfallen konnte. Was ich nicht weiß, ist, wie es kam, dass Sie auch dort waren.«
    »Ich bin ihm gefolgt. Andy, meine ich, nicht Joe. Von Joe wusste ich nichts. Ich kann es immer noch nicht recht glauben.« Nadine nahm den Strohhalm in den Mund, der in einem Plastikbecher steckte, und trank einen Schluck Wasser. Sie räusperte sich. »Ich habe heute Morgen in der Denmark Street herumgefragt, bis ich jemanden fand, der mir sagen konnte, in welchem Studio Andy aufnimmt. Auf dem Weg dorthin sah ich ihn, wie er die Westow Hill entlangging. Ich war mir nicht sicher, ob er zu seinem alten Haus gegangen war, aber dann sah ich die Flammen …«
    Sie machte eine Pause, um noch etwas Wasser zu trinken, dann schüttelte sie den Kopf und ließ sich wieder in die Kissen sinken. »Andy hätte sterben können. Wir hätten beide sterben können. Und das alles wäre nicht passiert, wenn ich nicht nach England zurückgekommen wäre«, fügte sie mit stockender Stimme hinzu. »Ich dachte, ich hätte diesen Abschnitt meines Lebens hinter mir gelassen; all das, was vor Jahren passiert ist. Aber als ich dann wieder in London war … Es ließ mir einfach keine Ruhe mehr. Ich …« Nadine schluckte und schloss die Augen. Als sie sie wieder aufschlug, musste Gemma fast den Blick abwenden, so schmerzhaft war der Ausdruck des tiefen Bedauerns. »Ich hatte solche Schuldgefühle, weil ich Andy damals den Rücken gekehrt hatte, ohne mich auch nur von ihm zu verabschieden. Ich wusste, dass er ein gefährdeter Jugendlicher war, dass seine Mutter nicht in der Lage war, für ihn zu sorgen, und trotzdem – trotzdem habe ich ihn im Stich gelassen. Ich habe ihn enttäuscht, und mich selbst auch. Das hat mich jahrelang verfolgt. Und deswegen konnte ich es zuerst nicht glauben, als ich zum ersten Mal seinen Namen im Fenster dieses Clubs in der Denmark Street sah. Ich kam mir hier so verloren vor, und diese vage Verbindung zur Vergangenheit erschien mir …« Sie seufzte. »Wie ein Zeichen, nehme ich an. Ich redete mir ein, dass es das war, was mich nach London zurückgebracht hatte – der Wunsch nach Wiedergutmachung. Ich begann, zu den Gigs der Band zu gehen. Ich wollte nur ein Mal mit ihm reden, um ihm zu sagen, dass es mir leidtat, und um mich zu vergewissern, dass es ihm gut ging.«
    »Es war also Andy, den sie am Freitagabend im White Stag sehen wollten?«, fragte Gemma. »Nicht Vincent Arnott?«
    »Aber nein, doch nicht Arnott.« Nadine schauderte. »Ich konnte es nicht glauben, als ich ihn dort an der Bar sitzen sah. Ich dachte, ich hätte Halluzinationen. Ich war mir immer noch nicht sicher, dass er es war, bis es dann zu diesem Handgemenge kam, worauf Arnott zur Bühne ging und Andy anzubrüllen begann.«
    Sie verstummte, und Gemma wartete nur, ohne sie zu drängen. Von draußen drang das geschäftige Stimmengewirr und Geklapper des Krankenhausalltags herein.
    Wie lange war es her, fragte sich Gemma, dass Nadine zuletzt mit jemandem über ihre Vergangenheit gesprochen hatte – wenn überhaupt je? Guy, ihr Chef in Paris, hatte offenbar von ihren Gründen, England zu verlassen, nichts gewusst.
    »Da war ein Mädchen«, fuhr Nadine fort, nachdem sie noch einen Schluck getrunken hatte. »Anfang zwanzig vielleicht. Allein. Ich sah, wie er sich an sie ranmachte, und mir wurde ganz schlecht. Dieser scheinheilige Mistkerl. Und ich war
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