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Wenn du wiederkommst

Titel: Wenn du wiederkommst
Autoren: Anna Mitgutsch
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wir allein sind, reden wir deutsch. Ich habe von Anfang an mit ihr nur deutsch gesprochen, und sie wechselt akzentfrei und ohne zu überlegen vom Englischen ins Deutsche, in beiden Sprachen gleichermaßen heimisch. Wir reden von Jerome in der Gegenwartsform, als könnten wir ihn so davor bewahren, tot zu sein.
    Er hat es gewußt, sage ich, und er hat es niemandem gesagt, aber ich hätte es trotzdem wissen müssen.
    Ich erinnere mich daran, wie oft er im Gehen stehenblieb und nach Luft rang, an seinen verzweifelten Blick am Fuß
jeder steilen Treppe, oder wenn er sich aufs Sofa fallen ließ und sich an die Brust griff, beschwichtigend abwinkte: Warte einen Augenblick, es geht gleich wieder. Kaum jemand hat so oft über den Tod geredet, über ihn Witze gemacht wie Jerome. Ein Abwehrzauber, eine Weigerung, den Vorgängen in seinem Körper, die ihn ängstigten, Macht zu geben. Wie groß muß seine Angst gewesen sein. Er muß es gespürt haben, als das Wasser von seinen schmerzenden, geschwollenen Beinen in die Lungen stieg und das Herz überschwemmte. Aber niemandem beschrieb er seine Symptome, mir nicht, seinem Arzt nicht, er wehrte jede anteilnehmende Frage ungeduldig ab, obwohl er immer öfter mit einem nach innen gekehrten Blick auf dem Sofa saß, ganz still, als horche er einer Stimme tief im Innern nach.
    Ich habe ihn mit seiner Angst allein gelassen, sage ich leise.
    Du hättest ihn zum Arzt schicken sollen, sagt Ilana vorwurfsvoll.
    Das habe ich doch immer wieder, wehre ich mich, aber er war stur und uneinsichtig. Er wollte sterben wie ein erstentialistischer Held, nicht dahinsiechen, sondern dem Tod trotzen, durch seine Weigerung, ihn anzuerkennen. Er war dem Leben und seinen Genüssen so zugetan, daß Krankheit und Tod ein Scheitern bedeutete, das er nicht ins Auge fassen wollte, er tat, als gäbe es das nicht. Mein Blick fällt auf das Foto einer blonden Frau in der Durchreiche zwischen Küche und Eßzimmer.
    Ilanas Augen sind meinem Blick gefolgt: Kennst du die?
    Wer hat das Foto da hingelegt? frage ich.
    Ilana insistiert auf einer Antwort: Tante Emily meinte, man müsse herausfinden, wer sie ist und sie verständigen.
    Ich schüttle den Kopf und reiße das Foto in der Mitte durch,
dann noch einmal, der Länge nach. Als habe er auf eine passive Weise Selbstmord begehen wollen, denke ich, weil das Leben ihm immer mehr vorenthielt.
    Ja, sage ich, sie heißt Suleyma, ich habe sie kennengelernt.
    Um Mitternacht fährt auch Ilana nach Hause. Verzeih, sagt sie, aber ich brauche ein wenig Schlaf.
    Du willst jetzt in der Nacht den ganzen weiten Weg zurückfahren, wo du doch morgen wiederkommst? frage ich.
    Zu dieser Zeit ist wenig Verkehr, entgegnet sie mit einer Bestimmtheit, die jede weitere Diskussion unmöglich macht.
    Ihr Zimmer ist so, wie sie es jedesmal vorgefunden hat, wenn sie während des Studiums nach Hause kam, das Bett bezogen, die Theater-Poster ihrer Highschool-Zeit noch an den Wänden, die Regale leer bis auf ein paar besonders geliebte Spielsachen aus ihrer Kindheit, auf der Kommode der Spiegel mit dem vergoldeten Holzrahmen, den Jerome ihr einmal aus Europa mitbrachte, und eine Schale voll exotischen Modeschmucks, den sie nicht mehr trägt. Ich dränge sie nicht zum Dableiben, vielleicht will sie die letzten Stunden vor dem Begräbnis an einem neutralen Ort verbringen, wo keine Kindheitserinnerungen sie bedrängen. Sie ist einunddreißig und hat ihr eigenes Leben. Und ihre Entscheidungen hatte sie schon früher oft mit einem unzugänglichen Eigensinn durchgesetzt, an dem meine Einwände abprallten. Vielleicht braucht man nur einen Elternteil, dem man besonders nahe ist, bei ihr war es der Vater gewesen. Sie sieht schmaler und älter aus als je zuvor, und sie ist zurückhaltend, als koste jeder Satz sie Überwindung. Oft setzt sie zum Reden an, verwirft dann, was sie sagen wollte, und schweigt statt dessen. Es ist eine ungewohnte Befangenheit zwischen uns, obwohl sie rücksichtsichtsvoll ist wie immer und sanfter als sonst. Es wäre schön, wenn sie
bliebe. Sie streicht mir über den Kopf, küßt mich auf die Stirn. Macht sie mir einen stummen Vorwurf?
    Die Limousine kommt um halb elf, sagt sie, und ich begreife wieder nur an der fühllosen Oberfläche meines betäubten Bewußtseins, daß die Limousine uns zum Friedhof bringen wird.
    Ich bleibe allein zurück in dem leeren Haus mit den Katzen, die den ganzen Nachmittag auf dem Fensterbrett gesessen sind und unverwandt hinausgeschaut haben, als
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