Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Wenn du wiederkommst

Titel: Wenn du wiederkommst
Autoren: Anna Mitgutsch
Vom Netzwerk:
die permanente Angst um jene, die er liebte, seine ängstliche Vorwegnahme einer Katastrophe schnürte mich so ein, daß ich fliehen mußte. Als Ilana klein war, gab er oft vor, den Babybuggy im Kofferraum vergessen zu haben, wenn er zur Arbeit fuhr: ein Tag weniger, an dem ich mit dem Kind dem Straßenverkehr und allen möglichen, unvorstellbaren Gefahren ausgesetzt sein würde, ein Tag mehr, an dem ich mit einem Kleinkind in einer Vorstadtwohnung eingesperrt war. Am späten Nachmittag machte er dann mit uns einen Ausflug, um uns zu entschädigen, aber über seine
Ängste und meinen Ärger darüber wollte er nicht reden. Ilana setzte sich später mit gutmütiger Spott über seine ständige Sorge um ihre Gesundheit und Sicherheit, mit der er ihre Freiheit einzuschränken versuchte, hinweg.
    Um sich selber hatte er nie gefürchtet. In seiner Jugend hatte er mit nächtlichen Rasereien auf dem Highway das Schicksal herausgefordert. Nur zuletzt überfiel ihn eine irrationale Angst vor etwas, das er nicht benennen und nicht deuten konnte. Wir wußten nicht, daß es das Ende war, aber auch ich spürte seine Angst. Sie machte ihn anhänglicher, weicher, bis auf die Augenblicke, in denen sie sich zur Todesahnung verdichtete.
    Unsere letzte Auseinandersetzung zwei Wochen vor seinem Tod hatte ein altes Gesellschaftsspiel zum Anlaß, das jeder unter dem Namen The lady or the tiger kannte, eine Version des Kaukasischen Kreidekreises um Eifersucht und Liebe. Ein König erwischt seine Gattin mit ihrem jungen Geliebten und stellt sie vor die Wahl mit den zwei Türen. Hinter der einen wartet der Tiger, um ihn zu zerreißen, und hinter der anderen eine neue Geliebte als Ersatz für sie. Er steht wehrlos in der Arena, und es liegt an ihr, ihn dem Tod auszuliefern oder ihn zu retten und dabei an eine andere zu verlieren. Was würdest du tun, fragte er an einem der letzten Abende während des Essens: The lady or the tiger?
    Laß mich in Ruhe, sagte ich, das Ganze wurde ohnehin von Männern wie dir ersonnen, die uns weismachen wollen, Eifersucht sei nichts anderes als moralisches Versagen.
    Er drängte: Du mußt dich entscheiden, sag schon.
    Plötzlich war es kein Spiel mehr, in seinen Augen stand blanke Angst. Ich wollte keinen Streit und sagte: Keins von beiden und wenn du mir etwas mitteilen willst, dann sag es
mir direkt. Aber er ließ nicht locker, und so rief ich leichtfertig: Dann eben den Tiger.
    You wouldn’t, would you? Du würdest mich töten? rief er entsetzt.
    Ich begriff die Todesangst in seinen Augen nicht und auch nicht, daß ein Spötter wie er ein Spiel so ernst nahm. Aber er war nur mehr zwölf Tage von seinem Tod entfernt, und vielleicht spürte er die Bedrohung, die er nicht entziffern konnte. Er sah mich an, als könnte ich sie abwenden, wenn ich ihn ins Leben entließe, als wäre ich mächtig genug, den Tod auf zuhalten. In seinen entsetzten Augen sah ich die Tür aufgehen und den Tiger springen, der ihm das Herz aus dem Leib reißen würde. Unsere Ängste standen einander gegenüber und ließen keinen Kompromiß zu: meine Angst vor dem Verlassenwerden gegen seine Angst vor der Auslöschung.
    Beruhige dich, sagte ich, und laß die Finger von den Damen, wenn du gerettet werden möchtest.
    Aber er war den ganzen Abend schlechter Laune und verfolgte mich mit mißtrauischen Blicken. Wie hätte ich sein fassungsloses Entsetzen deuten sollen? Er nahm das Spiel so ernst, als öffnete ich dem Tod die Tür, ich, der er immer vertraut hatte. Klammerte er sich an mich als den einzigen Menschen, der dem Tod den Eintritt verwehren konnte, weil trotz allem sein und mein Leben unser Leben war? Natürlich hätte ich dich gerettet, sage ich jetzt in der Einsamkeit des leeren Hauses, um jeden Preis hätte ich dich vor dem Tod gerettet, selbst um den Preis, verlassen zu werden.
    In jedem Leben gibt es eine letzte Nacht und einen letzten Morgen. Er war allein, und jede Geste war ein Abschiednehmen, jeder Blick ein letzter, aber er wußte es nicht. Hatte er eine Vorahnung, etwas wie eine unbestimmte Furcht? Das
letzte Mal die Katzen gefüttert, das letzte Mal den Rasierapparat aus der Hand gelegt, das letzte Frühstück, ein gekochtes Ei auf ein paar Salatblätter geschnitten, ein hellbraunes Teesäckchen in kochendem Wasser. Das Geschirr steht noch im Ausguß. Eigenartig, wie wichtig gerade die letzten Worte und Handlungen werden. Je näher der Tod, desto größer das Gewicht jeder unbedeutenden Geste, alles ist wie ein letzter Blick
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher