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Weller

Weller

Titel: Weller
Autoren: Birgit
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Kabel zusammen und überlegte, ob ich mit der Demontage der Kameras und der Bewegungsmelder warten sollte, bis es draußen wieder trocken wäre. Ach was, beschloss ich, was weg ist, ist weg. Ich zog meine Allwetterjacke über und griff nach Schraubenschlüssel und Schraubendreher. Die Leiter lehnte noch an der Hauswand. In der Luft lag ein pilzig-dumpfer Geruch, der schon deutlich an den drohenden Herbst gemahnte. Während ich auf der obersten Sprosse mit den sehr fest angezogenen Schrauben kämpfte, überfielen mich Erinnerungen an Wolfgang Zorn, an meine letzte Begegnung mit ihm, bevor ich ihn dann später bewusstlos in seiner Wohnung gefunden hatte. Meine gute Laune schwand jäh. Wir hatten diese Partie Boule miteinander gespielt und ich war voller Zweifel und Misstrauen ihm gegenüber gewesen, völlig verspannt und zu keiner normalen Haltung in der Lage. Damals hatte er sich bereits stark verändert, sah bleich und krank aus, trank offenbar wieder. Bei jedem anderen Klienten wäre ich diesen Anzeichen auf den Grund gegangen, hätte versucht, über die Ursachen zu sprechen, Unterstützung angeboten. Nicht so bei Zorn. Dabei wusste ich doch um seine verzweifelte Lage, wusste von den unsäglichen Demonstrationen vor seiner Haustür, von dem ganzen hasserfüllten Misstrauen, das ihm aus der Bevölkerung entgegengebracht wurde. Wie hatte ich das alles ignorieren können? Meine Prinzipien der vorurteilsfreien Empathie für meine Klienten, des fairen und gerechten Umgang mit ihnen, hatten seit genau jenem Zeitpunkt nicht mehr gegolten, da ich meine persönlichen Belange tangiert sah. Skrupellos hatte ich Ellens Sicherheit über die Rechte meiner Klienten gestellt. Ich hatte versagt, war meinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht worden, hatte meine Arbeitsgrundsätze verraten.
    Wie hatte es nur so weit kommen können? Warum war die geradlinige Person, die ich einmal gewesen zu sein glaubte, so einfach verschwunden?
    Der Malstrom meiner Gedanken versiegte erst, als Ellen mich rief.
    »Bist du da oben festgewachsen oder genießt du die Aussicht?« Wie lange stand sie in ihrem roten Arbeitsoverall und den groben Sicherheitsschuhen schon dort an der Hausecke und beobachtete, wie ich mich gedankenverloren auf der Leiter mit der Kamerahalterung abmühte? Ich hatte nicht bemerkt, wie die Geräusche aus ihrer Werkstatt verstummt waren.
    »Versuch es mal mit dem.« Sie reichte mir einen Akku-schrauber.
    »Danke.« Meine gute Laune von vorhin kam mir mit einem Mal grotesk vor. Ich löste die letzte Schraube und Ellen nahm mir die Kamera ab. Sie sah mich besorgt an.
    »Warum habe ich das Gefühl, dass deine Stimmung umgeschlagen ist?«
    Ich stieg die Leiter hinab und gab ihr einen Kuss.
    »Weil du eine sehr feinfühlige Frau bist, die mich manches Mal besser kennt, als ich mich selbst.«
    ***
    Als er in das Gesicht des hemmungslos lachenden großen Mannes gestarrt hatte, war ihm klar geworden, dass dies ein ebenso überheblicher, besserwisserischer Scheißkerl war, wie all diese aufgeblasenen Ausstellungsbesucher, die in ihren gebügelten Sonntagskleidern, das Rotweinglas in der Hand, die Räume des Schlosses durchstreiften, ihre Kommentare zu allem und jedem abließen und so taten, als gehörte ihnen hier alles. Arrogante Klugscheißer, die ihm, wenn überhaupt, so viel Interesse entgegenbrachten wie einer Küchenschabe.
    Aber der hier hatte freundliche Augen gehabt. Deshalb hatte er ihm seine Bilder gezeigt, hatte das Gefühl gehabt, er wäre höchstwahrscheinlich kein böser Mensch. Doch das waren die Schlimmsten: die Wohlmeinenden. Deren Herablassung wie ätzender Schleim auf ihn herabtropfte, sich in seine Seele fraß. All die Polizisten, Sozialarbeiter, die Frauen aus dem Dorf. Selbst die Schlossherrin war so.
    ›Wir geben ihm eine Chance‹, hatte sie zu ihrem Mann gesagt, ohne zu merken, dass er unter ihrem Fenster stand und zuhörte. ›Wenn er jetzt nicht die Kurve kriegt und weiter bei diesen Neonazis in Grevesmühlen herumhängt, hat er selbst Schuld. Wir haben wenigstens alles getan, um ihm ein einigermaßen normales Leben zu ermöglichen. Er verdient zwar nicht die Welt bei uns, aber das ist der erste feste Job, den er je hatte. Dabei ist er schon fast dreißig.‹ Er war zusammengezuckt, als er begriff, dass sie über ihn sprachen, hatte nicht lauschen wollen. Doch er war stehen geblieben, hatte mit gesenktem Kopf erfahren, was sie und ihr Mann wirklich von ihm dachten. Er tat ihnen Leid, sie hielten ihn für
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