Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weißer Teufel

Weißer Teufel

Titel: Weißer Teufel
Autoren: Justin Evans
Vom Netzwerk:
wahr, dass die High Street aussah, wie er sie in seinem Essay beschrieben hatte – wie im Jahr 1809. In der Mordnacht.
    Kein Asphalt, keine Gehsteige. Ein schmaler Feldweg mit Furchen von den Kutschen und Karren und festgestampft durch Pferdehufe und Füße der Menschen. In ein paar Fenstern standen Lampen. Hinter dem schwachen Schein Dunkelheit. Die schwarze Nacht überspannte den Hügel, schlängelte sich zwischen den Bäumen hindurch. Hierher hatte Lord Byron Marys Leichnam getragen, um ihn abzulegen.
    Asphalt. Ein Auto raste vorbei.
    Der Schmerz in Andrews Hals war stärker geworden.
    Mit einem Mal begriff er, was Harness mit ihm machte.
    Er zwang ihn, die ganze Reise von Gesundheit bis zum Tod zu erdulden, dasselbe Leid zu erfahren, das die vernichtende Krankheit ihm angetan hatte. Nur Andrew würde das alles an einem einzigen Abend durchleben und sterben. Er berührte sein Gesicht; fühlte die Kante des Wangenknochens und fuhr sie mit der Fingerspitze nach. Das Fett war weggeschmolzen. Wunde Stellen entstanden in seinem Mund. Fieber brannte in seinen Wangen.
    Harness würde ihn töten. Er würde sie alle töten.
    Alle?
    Was, wenn ich mich ihm freiwillig ausliefere?
    War ihm diese Idee nicht schon einmal durch den Kopf gegangen? Und Fawkes hatte sie ihm ausgeredet. Aber Fawkes hatte nicht immer recht. Fawkes wusste nichts von dem toten Daniel Schwartz, von der Überdosis, von dem Aufsteigen in einem Ballon und dem brennenden Gefühl, dass man den Tod verdiente, dass man dazu bestimmt war. Fawkes wusste nicht, dass sein Vater das Kanu verkauft und gedroht hatte, dass er fertig mit seinem Sohn war. Fawkes liebte sich selbst und konnte es nicht ertragen, etwas von sich zu geben. Er ahnte nicht, was Andrew gerade klargeworden war – dass er nirgendwohin gehörte und nie irgendwohin gehören würde.
    Der Gedanke wurde immer klarer.
    Wenn ich mich ausliefere, lässt Harness die anderen vielleicht in Ruhe. Er will mich. Ich muss ihn nur wissen lassen, dass er mich haben kann, wenn er die anderen zurückgibt.
    Andrew schwankte weiter über den moosbewachsenen Gehsteig und stützte sich an den Platanen ab, um zu verschnaufen. Sein Atem kam stoßweise. Das Fleisch auf seinen Knochen war geschwunden.
    Er war ausgemergelt .
    Möglicherweise hatte er nicht mehr die Kraft, zum Lot zu gelangen. Er sah ein Auto um die Kurve kommen, es blieb an der Ampel auf dem Hügel kurz stehen. Andrew warf sich auf die Straße und hob eine Hand. Die Scheinwerfer blendeten ihn.
    »Können Sie  …« Der Rest des Satzes erstarb auf seinen Lippen. Können Sie mich mitnehmen – nur ein paar Blocks? Der Schmerz in seiner Kehle war unerträglich  – ein Dolchstoß. Noch schlimmer war das entsetzte Gesichtdes Fahrers. Er war in den Vierzigern, muskulös in einem Trägerhemd – offensichtlich kam er aus dem Fitnessstudio und war auf dem Weg nach Hause. Er war drauf und dran, Andrew zu antworten, besann sich jedoch eines anderen. Er sah eine hagere Gestalt mit eingefallenen Wangen; dunkles Haar, ein kantiges Gesicht. Der Junge –  falls man das, was er vor sich hatte, so bezeichnen konnte – sah aus wie etwas, was man gerade exhumiert hatte. Doch das wirklich Angst Einflößende waren die Augen. Sie lagen tief in den Höhlen und starrten ihn mit dumpfer Verzweiflung an; dieser Blick bat um etwas, drückte aber gleichzeitig aus, dass sein Flehen vergeblich war; dem Jungen ging es ums nackte Überleben. Der Junge in dem eigenartig altmodischen Gehrock murmelte etwas. Der Fahrer schaltete in den Leerlauf und ließ den Wagen ein Stück bergab rollen – weg von der Gestalt, die ins Scheinwerferlicht gesprungen war –, dann gab er Gas. Erst aus sicherer Entfernung warf er einen Blick zurück. Hatte er geträumt? Er verwarf den Gedanken, die Polizei oder die Ambulanz zu rufen. Stattdessen wollte er so schnell wie möglich nach Hause und die Haustür fest verschließen.
    »Halt, halt!«, unterbrach Fawkes.
    Father Peter sah ihn verständnislos an. Er hatte mit nach jahrelanger Schulung kräftiger Stimme gelesen, die normalerweise bis in die letzten Bänke einer Kirche trug. Sie standen in Andrews verwinkeltem Zimmer. Auf dem Schreibtisch lagen die Reste von Andrews Recherche: Ausdrucke mit markierten Textstellen. Neben dem Schrank stand eine große, hastig gepackte Reisetasche mit offenem Reißverschluss.
    »Wir sind hier falsch«, sagte Fawkes und runzelte die Stirn.
    »Es ist vorgeschrieben, bei diesem Ritual die wichtigsten Räume des
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher