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Weil wir glücklich waren - Roman

Weil wir glücklich waren - Roman

Titel: Weil wir glücklich waren - Roman
Autoren: Bastei Lübbe
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dauerhaft beschränkt war. Natürlich ist es möglich, dass die Darstellung meines Vaters weder korrekt noch gerecht war. Lange nachdem der Dachdecker - dessen Name, wie ich später erfuhr, Greg Liddiard war - nach Alaska zurückgegangen war, um seine schwangere Freundin zu heiraten, und meine Mutter kaum noch Grund hatte, ihn zu verteidigen, erklärte sie meiner älteren Schwester und mir, dass es viele verschiedene Arten von Intelligenz und Dummheit gebe und nichts davon ausschließlich auf Greg Liddiard - ihren ehemaligen Liebhaber oder Lyrikfreund, oder was auch immer er gewesen war - zutreffe.
    Mein Vater sei sich, wie er uns gestand, selbst ziemlich beschränkt vorgekommen. Er wollte Elise und mir begreiflich machen, wie blind und dumm er sich auf einmal gefühlt hatte. »Du glaubst, jemanden zu kennen«, sagte er. »Du glaubst ungefähr zu wissen, was bei dir zu Hause vorgeht.« Sobald ihm aufgegangen sei, was tatsächlich lief, sagte er, habe er genug davon gehabt, der Gelackmeierte zu sein. Keine zwei Minuten nachdem Greg Liddiard ohne Hemd zur Tür hinaus und über unsere lange, vereiste Auffahrt zu seinem Lieferwagen gelaufen war, der immer noch am Ende der Sackgasse stand, rief mein Vater von seinem Handy aus meine Mutter auf ihrem an.
    »Sie muss die Nummer erkannt haben«, sagte er, immer noch ungläubig. »Verstehst du, Veronica? Sie muss gewusst haben, dass ich es bin.« Er erinnerte sich deutlich, dass das Hallo meiner Mutter nicht besonders wachsam geklungen hatte, weder besonders freundlich noch unfreundlich. Sie hatte nicht wie eine Lügnerin, eine Betrügerin, eine Diebin geklungen, die ihm seine Lebenskraft, ja sein Leben selbst gestohlen hatte. Sie habe völlig unbefangen geklungen, staunte er.
    »Oh«, sagte sie. »Du bist zu Hause?« Im Hintergrund war geschäftiges Treiben zu hören, lautes Stimmengewirr. Zuerst glaubte er, sie wäre heute als Ersatzlehrerin in der Volksschule oder an der Junior High tätig und hätte ihren Anruf vor einer Klasse gelangweilter oder feindseliger Vorstadtjugendlicher angenommen, die sich schlecht benahmen, falsche Namen nannten und fragten, wann ihre richtige Lehrerin wiederkommen würde. Aber es war Samstag, der Tag, an dem meine Mutter ehrenamtlich bei der Essensausgabe für Obdachlose arbeitete. Wie selbstlos! Er sah sie vor sich, wie sie Dosensuppen stapelte, mit Schürze, selbstgerechter Miene und natürlich auch mit ihrem Ehering am Finger.
    »Ja«, antwortete er. »Ich bin zu Hause, Natalie. Und ich denke, du solltest auch lieber nach Hause kommen. Am besten sofort.«
    Ihr musste an seinem Tonfall etwas aufgefallen sein. Er erzählte, dass sie eine Weile geschwiegen habe. Trotz des Hintergrundlärms habe er am anderen Ende der Leitung ihre Atemzüge hören können.
    »Ja«, gab sie ihm schließlich recht. »Wir müssen reden.«
    Er lachte. Tatsächlich, er lachte. Er sei nervös gewesen, erklärte er, völlig von der Rolle, als er in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer gestanden, sein Gesicht im Spiegel angeschaut und erkannt habe, wie viel sich verändern würde. Meine Eltern waren damals seit sechsundzwanzig Jahren verheiratet. Als sie sich kennengelernt hatten, war meine Mutter in ihrem ersten Jahr auf dem College gewesen, und mein Vater hatte im zweiten Jahr Jura studiert. Ihre Ehe hatte frühe Elternschaft, einen überfluteten Keller und den Tod seiner und ihrer Eltern überstanden. Sie waren Verbündete gegen Kyle - den ersten Freund meiner Schwester - gewesen, der zuerst so nett gewirkt hatte, dann aber damit drohte, sich in unserer Auffahrt anzuzünden, als meine Schwester mit ihm Schluss machte. Meine Eltern waren verheiratet, als Reagan Präsident war, als der erste Bush Präsident war, als Clinton Präsident war und auch noch unter dem zweiten Bush. Gemeinsam hatten sie Urlaube, Beerdigungen und die Hochzeit meiner Schwester geplant.
    »Ach, meine Liebe«, sagte er beinahe zärtlich und mit wehmütiger Stimme - oder zumindest klang sie immer so, wenn er mir diese Geschichte erzählte. »Ach, Natalie«, sagte er zu meiner auf Abwege geratenen Mutter. »Ich fürchte, du ahnst nicht, wie recht du hast.«
    Von diesem Punkt an gehen ihre Darstellungen der Geschichte noch weiter auseinander. Obwohl ich sie nicht darum gebeten hatte, erzählten mir meine Mutter und mein Vater ihre Versionen vom Tag des schlafenden Dachdeckers und von dem, was geschehen war, als meine Mutter nach Hause kam. Mein Vater behauptete, er habe sie mit dem Zettel und dem Hemd
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