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Weihnachten mit Maigret

Weihnachten mit Maigret

Titel: Weihnachten mit Maigret
Autoren: Georges Simenon
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sehen.«
    Für alle Fälle zog er es vor, sich kurz mit dem Kamm durchs Haar zu fahren, die Zähne zu putzen und schnell das Gesicht zu waschen. Er war noch im Zimmer und zündete sich gerade seine Pfeife wieder an, als es an der Tür läutete. Madame Maigret war wohl sehr abweisend, denn erst nach geraumer Zeit kam sie zu ihm ins Zimmer zurück.
    »Sie wollen dich unbedingt sprechen«, flüsterte sie. »Sie sagen, es sei vielleicht wichtig, und sie brauchten einen Rat. Ich kenne eine der beiden.«
    »Welche?«
    »Die kleine Dünne, Mademoiselle Donc œ ur. Sie wohnt in der gleichen Etage wie wir im Haus gegenüber und arbeitet den ganzen Tag am Fenster. Sie ist eine sehr anständige Person, die für ein Modehaus am Faubourg Saint-Honoré feine Stickereien anfertigt. Ich frage mich schon eine Weile, ob sie nicht in dich verliebt ist.«
    »Warum?«
    »Weil es oft genug vorkommt, dass sie aufsteht und hinter dir herschaut, wenn du weggehst.«
    »Wie alt ist sie?«
    »Zwischen fünfundvierzig und fünfzig. Ziehst du dir keinen Anzug an?«
    Warum sollte er nicht das Recht haben, sich im Morgenmantel zu zeigen, wenn er schon am Weihnachtsmorgen um halb neun gestört wurde? Dennoch zog er darunter eine Hose an und öffnete dann die Tür zum Esszimmer, wo die beiden Frauen standen.
    »Entschuldigen Sie bitte, Mesdames...«
    Vielleicht hatte Madame Maigret tatsächlich recht. Mademoiselle Donc œ ur errötete nämlich nicht, sondern wurde abwechselnd blass, lächelte, blickte sodann ernst, lächelte wieder, öffnete den Mund, ohne sofort die Sprache wiederzufinden.
    Die Blonde dagegen hatte sich völlig in der Gewalt und gab unwirsch zu verstehen: »Ich wollte gar nicht kommen.«
    »Möchten Sie sich nicht setzen?«
    Er bemerkte, dass die Blonde unter ihrem Mantel ein Hauskleid trug und keine Strümpfe anhatte, während Mademoiselle Doncœur angezogen war, als begebe sie sich zur Messe.
    »Sie fragen sich vielleicht, woher wir die Kühnheit nehmen, uns an Sie zu wenden«, begann Mademoiselle Doncœur, wobei sie nach jedem Wort suchte. »Wie jeder hier im Viertel wissen wir natürlich, mit wem wir als Nachbarn die Ehre haben...«
    Jetzt errötete sie leicht und starrte das Tablett an.
    »Wir halten Sie davon ab, zu Ende zu frühstücken.«
    »Ich war schon fertig damit. Worum geht es?«
    »Heute Morgen, oder besser gesagt, heute Nacht, geschah in unserem Haus etwas so Merkwürdiges, dass ich es für unsere Pflicht hielt, mit Ihnen darüber zu sprechen. Madame Martin wollte Sie nicht stören. Ich sagte ihr...«
    »Sie wohnen ebenfalls gegenüber, Madame Martin?«
    »Ja, Monsieur.«
    Man sah ihr an, dass sie nicht glücklich über diesen Schritt war, zu dem man sie gedrängt hatte. Mademoiselle Doncœur dagegen war in Schwung gekommen.
    »Wir wohnen auf derselben Etage, Ihrer Wohnung genau gegenüber.« (Sie errötete aufs neue, als hätte sie ein Geständnis gemacht.) »Monsieur Martin befindet sich oft auf Geschäftsreise, er ist nämlich Handelsvertreter. Seit zwei Monaten liegt die kleine Tochter der Martins infolge eines dummen Unfalls im Bett.«
    Höflich wandte sich Maigret der Blonden zu. »Sie haben eine Tochter, Madame Martin?«
    »Das heißt: Eigentlich ist sie nicht unsere Tochter, sondern unsere Nichte. Ihre Mutter ist vor etwas mehr als zwei Jahren gestorben, und seitdem lebt das Kind bei uns. Sie hat sich auf der Treppe das Bein gebrochen und hätte nach sechs Wochen wieder gesund sein müssen, wenn es keine Komplikationen gegeben hätte.«
    »Ihr Mann ist zur Zeit nicht in der Stadt?«
    »Er müsste sich in der Dordogne aufhalten«, mischte sich Mademoiselle Doncœur ein.
    »Ich bin ganz Ohr, Mademoiselle Doncœur.«
    Madame Maigret hatte einen Umweg durch das Badezimmer gemacht, um in die Küche zu gelangen, wo man sie nun mit Kochgeschirr hantieren hörte. Hin und wieder blickte Maigret zum grauen Himmel.
    »Heute Morgen bin ich wie gewöhnlich früh aufgestanden, um zur ersten Messe zu gehen.«
    »Sind Sie hingegangen?«
    »Ja. Ich bin gegen halb acht wieder nach Hause gekommen, da ich drei Messen besucht habe. Dann habe ich mir mein Frühstück gemacht. Sie hätten Licht in meinem Fenster sehen können.«
    Er gab ihr zu verstehen, dass er darauf nicht geachtet hatte.
    »Ich wollte anschließend Colette ein paar Süßigkeiten bringen, weil es für die Kleine doch ein so trauriges Weihnachtsfest ist. Colette ist die Nichte von Madame Martin.«
    »Wie alt ist sie?«
    »Sieben. Nicht wahr, Madame
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