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Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit

Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit

Titel: Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit
Autoren: Hildegund Keul
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Einzelner und das Schicksal von Staaten erheblich beeinflussen. Sie stehen im Dienst eines Landes, eines Volkes oder eines Herrschers, denn dort werden sie gebraucht. Aus diesem Grund halten sie Augen und Ohren offen und sind hoch sensibel für Zeichen, die gravierende Veränderungen ankündigen. Sie müssen die Ersten sein, die solche, vielleicht zunächst unscheinbaren Zeichen wahrnehmen und in ihrer Bedeutung erkennen. Es gehört zu ihrer Profession, über die Grenzen ihres Landes hinaus auf das zu schauen, was sich Bedeutsames ereignet. Wenn in einem Nachbarland ein zukünftiger König geboren wird und es dazu ein Himmelszeichen gibt, dann ist es klug, dem entsprechenden Königshaus politische Ehre zu erweisen. Und es empfiehlt sich, auch persönlich nachzuschauen, was dort in der Ferne los ist.
    Dennoch ist es erstaunlich, dass sich die Sterndeuter aus der Heimat in die Fremde wagen. Sie bleiben nicht im eigenen Land und verlassen das Territorium sowohl ihrer eigenen Ethnie wie ihrer eigenen Religion – in der Tradition werden sie als »Heiden« bezeichnet, die dem Kind huldigen. Ihr Weg zur Krippe ist ungeheuer lang und ungeheuer beschwerlich. Sie nehmen Unannehmlichkeiten, Kosten und Anstrengungen auf sich und wissen nicht, ob sie gesund oder ob sie überhaupt nach Hause zurückkommen werden. In der Bibel heißt es, dass sie einem Stern folgen. Wie sie das machen, bleibt eines ihrer vielen Geheimnisse. In der Tradition wirkte dieser Stern inspirierend. Auf der mittelalterlichen Darstellung von Autun ist er in Stein gehauen, als die – nunmehr drei – Sterndeuter unter einer Decke stecken und träumen. Sie haben den Stern aus dem Blick verloren, ein Engel erinnert sie daran, dass sie ihm folgen wollten. Behutsam rührt er die Hand eines Magiers an und zeigt hinauf. »Bind deinen Karren an einen Stern!« – diesen Spruch, der Leonardo da Vinci zugeschrieben wird, stehtmit der Weihnachtsgeschichte in Verbindung. Wenn sie die Mühsal, Unsicherheit und Gefahr des Weges an ihren Stern binden, können sie leichtfüßiger ausschreiten. Eine Mission zu haben, das beflügelt. Solche beflügelnde Kraft können sie brauchen.
    Als sie noch zuhause waren, haben die Sterndeuter großes Ansehen genossen. Die wertvollen Geschenke, die sie mitbringen, zeugen davon. In der Fremde ist das jedoch nicht selbstverständlich der Fall. Ihnen wird kein Fest bereitet oder eine andere Ehre erwiesen, als sie in Jerusalem eintreffen. Im doppelten Sinn des Wortes sind sie »dahergelaufene« Sterndeuter. Sie haben einen weiten Weg hinter sich, der sie von dem Ort ihrer Anerkennung entfernt. In der Hauptstadt Judäas weiß man anfangs nicht, was man von ihnen halten soll. Niemand kennt sie. Sie sehen wahrscheinlich fremd aus mit ihrer Kleidung, die nicht hierher gehört, sie bewegen sich anders und sprechen nicht den vor Ort üblichen Dialekt. Kann man ihnen vertrauen? Niemand bürgt für sie. Vielleicht hat man es mit Scharlatanen zu tun?
    Die Sterndeuter aber folgen jener politischen Ordnung der Dinge, die sie gewohnt sind und von zuhause kennen: Ein König wird in einem Palast geboren. Dieser König des Himmels allerdings nicht. Also verlaufen sie sich. Sie gehen zielstrebig ins Zentrum der lokalen politischen Macht. Dort stellen sie die entscheidende Frage: »Wo ist der neugeborene König der Juden?« (Mt 2,2) Das führt zu Irritationen, König Herodes erschrickt. Da er den Sterndeutern aber nicht so einfach trauen kann, zieht er seine eigenen Leute zu Rate. Er bringt in Erfahrung, dass der neue König der Juden in Betlehem zu erwarten ist. Dorthin brechen die Sterndeuter auf, nachdem Herodes sie über ihr weiteres Verhalten instruiert hat. Sie sind bereit, einen neuen Weg einzuschlagen und nicht auf eingefahrenen Pfaden zu beharren.
    Welchen Schock oder welch ungläubiges Erstaunen müssen die Sterndeuter erlebt haben, als sie in Betlehem ankamen! Für sie, die zwar den König erwartet haben, aber nicht an einem solchen Ort, kehrt sich die gesamte Ordnung der Dinge um. Königsgeburt und Gottesgeburt sind eben nicht identisch. Aber immerhin, die Magier finden zur Krippe, während dem Herodes der Ort der Gottesgeburt verschlossen bleibt. Die Gelehrten aus dem Ausland stehen neben den armseligen Hirtinnen und Hirten an der Krippe. Religiöse Grenzen werden genauso überschritten wie Grenzen der Sprache und des Milieus. Denn Gott wird geboren in Armut. Damit setzt er ein Zeichen: Menschwerdung geschieht, wo man sich von der menschlichen
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