Was sie nicht weiss

Schädel eingeschlagen worden.
    Sie blickt auf ihre eigene schlichte Uhr von Esprit und seufzt unhörbar. Erst eine Viertelstunde ist vergangen, und schon hat sie die Nase voll.
    Und es wird auch nicht besser, obwohl Tessa sich ihrer a nnimmt und sie verschiedenen Leuten vorstellt. Die Gesprä che sind alle gleich und stocken, sobald sich herausstellt, dass sie keine Immobilien in Dubai besitzt und noch nicht einmal mit einem Feriendomizil in der Toskana aufwarten kann.
    Mitten in solch einer mühseligen Unterhaltung klingelt Lois’ Handy. Sie greift danach wie nach einem Rettungsanker und meldet sich, ohne sich auch nur bei ihrer Gesprächspartnerin zu entschuldigen.
    »Lois, hier spricht Ramon. In Daalmeer wurde ein Toter gefunden. Sehr wahrscheinlich Mord. Kannst du so schnell wie möglich kommen?«
    »Ich fahr gleich los«, sagt Lois, das Telefon am einen Ohr und die Hand über das andere gelegt, um den Partylärm auszublenden.
    »Die Leiche liegt am Ufer des Oudie, das ist der See bei den Sportanlagen.«
    »Kenne ich, bis gleich.« Sie beendet das Gespräch und steckt das Telefon in die Handtasche, froh, dass sie gehen kann, auch wenn der Anlass nicht unbedingt ein Mord hätte sein müssen.
    Sie hält nach ihrer Schwester Ausschau und findet sie schließlich im Getümmel.
    »Tessa, tut mir leid, mein Chef hat angerufen. Ich muss weg.«
    »Das darf nicht wahr sein! Ausgerechnet heute Abend! Kann der nicht jemand anderen holen?«
    »Nein, ich habe Bereitschaft. Und ich muss sofort los. Entschuldigst du mich bitte bei Guido?«
    Ohne die Antwort abzuwarten, dreht Lois sich um. Sie eilt in den Eingangsbereich zur Garderobe, einem mehrere Meter langen Ständer voller Jacken und Mäntel. Sie gibt der für diesen Abend angeheuerten Garderobenfrau ihren Abholzettel und wartet ungeduldig, dass diese zwischen all dem Leder und Pelz ihren einfachen schwarzen Trenchcoat findet.
    »Sie gehen doch nicht etwa schon?« Onno ist ihr gefolgt und sieht sie nun enttäuscht an.
    »Ich muss leider«, sagt sie. »Die Arbeit ruft.«
    »Was ist passiert?«
    »Ein Leichenfund, mehr weiß ich nicht.« Lois greift nach ihrem Mantel, Onno nimmt ihn sofort ab und hilft ihr hinein.
    »Tja, das war ein kurzes Vergnügen«, sagt er bedauernd. »Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.«
    »Wer weiß …« Sie lächelt ihm flüchtig zu.
    Bald darauf sitzt sie im Auto und biegt in die Eeuwigelaan ein. Wie wohl die Kollegen reagieren, wenn sie gleich im sexy kleinen Schwarzen und mit Stöckelschuhen am Tatort aufkreuzt?
    Sobald sie die Ortschaft hinter sich hat, gibt sie Vollgas.

5
    Am Tatort herrscht bereits Hochbetrieb. Eine ganze Reihe Polizisten sind da, außerdem die Spurensicherer und das forensische Team.
    Fred kommt Lois entgegen.
    »Sieh an«, sagt er mit einem prüfenden Blick auf ihr Outfit unter dem offenen Trenchcoat. »Das also ist die feine Lois.«
    »Na klar doch. Und was gibt’s hier?«
    »Eine männliche Leiche. Die Spurensicherer sind so gut wie fertig, komm mit.«
    Sie gehen durch das nasse Gras in Richtung der Scheinwerfer und des Absperrbands. Mit jedem Schritt graben sich Lois’ hohe Absätze tiefer in den weichen Boden.
    Sie und Fred zeigen dem Polizisten, der den Tatort bewacht, ihre Dienstausweise, dann ducken sie sich unter dem Band durch.
    Hauptkommissar Ramon Koenen steht mit dem Rechtsmediziner Benno Andriesse neben der Leiche, die sich zunächst nur als dunkle Silhouette am Boden abzeichnet.
    »Gut, dass du so schnell kommen konntest«, sagt er, als er Lois bemerkt. »Schau dir das mal an.«
    Sie tritt näher. Der Tote liegt auf dem Rücken. Seine Hose ist heruntergezogen, und im grellen Licht der Scheinwerfer ist dort, wo zuvor sein Penis war, eine tiefe blutige Wunde zu sehen. Der Penis selbst steckt in seinem Mund.
    Fassungslos betrachtet Lois den leblosen Körper. Eine so übel zugerichtete Leiche hat sie noch nie gesehen.
    »Wer hat ihn gefunden?«, fragt sie.
    »Ein Mann, der mit seinem Hund unterwegs war. Der Hund rannte auf die Wiese, verschwand im Nebel und kam nicht wieder. Als der Hundehalter nachsehen ging, fand er ihn bei der Leiche. Er hat uns sofort alarmiert und hier gewartet.«
    »Wissen wir etwas über den Toten?«
    »Er hatte zum Glück seine Brieftasche mit dem Pass bei sich, also kennen wir seine Identität«, sagt Ramon. »David Hoogland, achtundzwanzig Jahre alt, wohnhaft in Alkmaar. Anscheinend ist er durch einen Schlag auf den Hinterkopf getötet worden.«
    »Könnte sein«, meint Andriesse.