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Was geschah mit Mara Dyer?: Roman (German Edition)

Was geschah mit Mara Dyer?: Roman (German Edition)

Titel: Was geschah mit Mara Dyer?: Roman (German Edition)
Autoren: Michelle Hodkin
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taten es auch. Leute, mit denen sie nie ein Wort gewechselt hatte; Leute, die sie nicht einmal mochte. Die ganze Schule war da, alle beanspruchten ein Stück von ihr für sich. Alle außer Claire und Jude. Ihr Gedenkgottesdienst fand heute Nachmittag statt.
    Es war ein fahlgrauer, grimmiger Wintertag. Einer meiner letzten in Neuengland.
    Der Wind wehte, dass mir die Locken gegen die Wangen peitschten. Eine Handvoll Trauergäste stand zwischen mir und meinen Eltern, die sich als schwarze Silhouetten gegen den farblosen, verhangenen Himmel abzeichneten. Ich kauerte mich in meinen Mantel, den ich mir enger um den Körper schlang, um mich den starren Blicken meiner Mutter zu entziehen. Seit meiner Entlassung aus dem Krankenhaus beobachtete sie jede meiner Reaktionen. Sie war als Erste bei mir gewesen in der Nacht, als ich mit meinen Schreien die Nachbarn weckte, und sie war es, die mich am nächsten Tag weinend in meinem Kleiderschrank erwischte. Doch erst nachdem sie mich zwei Tage später mit benommenem Blinzeln und der Glasscherbe eines zerbrochenen Spiegels in der blutenden Hand vorfand, bestand sie darauf, Hilfe zu holen.
    Ich bekam eine Diagnose. Posttraumatische Belastungsstörung, sagte der Psychiater. Albträume und Halluzinationen waren meine neue Normalität, wie es aussah, und irgendetwas an meinem Verhalten in seinem Sprechzimmer veranlasste den Psychologen, mir eine Langzeiteinrichtung vorzuschlagen.
    Das durfte ich nicht zulassen. Stattdessen schlug ich einen Umzug vor.
    Ich erinnere mich noch, dass meine Mutter schmale Augen machte, als ich das Thema wenige Tage nach dem verheerenden Arzttermin zur Sprache brachte. So wachsam, so vorsichtig , als wäre ich eine Bombe unter ihrem Bett.
    »Ich bin sicher, dass mir das helfen wird«, sagte ich, nicht im Geringsten überzeugt. Doch ich hatte seit zwei Wochen keine Albträume mehr gehabt und die Geschichte mit dem Spiegel, an die ich mich nicht erinnern konnte, war offensichtlich eine einmalige Angelegenheit gewesen. Der Psychologe reagierte übertrieben, genau wie meine Mutter.
    »Warum glaubst du das?« Die Stimme meiner Mutter klang ruhig und gelassen, aber ihre Fingernägel waren immer noch bis aufs Nagelbett abgekaut.
    Ich versuchte mich an das ziemlich einseitige Gespräch zu erinnern, das ich mit dem Psychologen geführt hatte.
    »Sie war so oft hier im Haus. Ich kann keinen Schritt tun, ohne an sie denken zu müssen. Und wenn ich wieder zur Schule gehe, werde ich sie dort überall sehen. Aber ich will zurück in die Schule. Ich muss. Ich muss endlich auf andere Gedanken kommen.«
    »Ich spreche mit deinem Vater darüber«, sagte sie, während ihre Augen mein Gesicht erforschten. Ich konnte ihr an jeder Stirnfalte, an jeder Bewegung ihres Kinns ansehen, dass sie nicht verstand, wie ihre Tochter das zustande gebracht hatte – wie ich mich aus dem Haus schleichen und an einem Ort landen konnte, wo ich absolut nichts verloren hatte. Sie hatte mich gefragt, aber ich wusste natürlich keine Antwort.
    Wie aus dem Nichts hörte ich die Stimme meines Bruders. »Ich glaube, es ist gleich vorbei«, sagte Daniel.
    Mein Herzschlag verlangsamte sich, als ich zu ihm aufblickte. Wie er vorhergesagt hatte, forderte uns der Priester auf, die Köpfe zu senken und zu beten.
    Unruhig verlagerte ich das Gewicht und sah zu meiner Mutter hinüber. Wir waren nicht religiös und ehrlich gesagt wusste ich nicht, was ich tun sollte. Falls es eine Art Protokoll gab, wie man sich auf der Beerdigung seiner besten Freundin zu verhalten hatte, dann war das Memo nicht bei mir angekommen. Doch meine Mutter senkte den Kopf und das kurze, schwarze Haar fiel über ihre makellose Haut, als sie mich taxierte. Ich wandte die Augen ab.
    Nach einer gefühlten Ewigkeit hoben sich die Köpfe, als warteten die Leute nur darauf, dass es vorbei war, und die Menge löste sich auf. Daniel stand an meiner Seite, während mir meine Klassenkameraden nacheinander versicherten, wie leid es ihnen tue, und mir versprachen, nach dem Umzug in Kontakt zu bleiben. Ich war seit dem Tag des Unfalls nicht mehr in der Schule gewesen, aber ein paar von ihnen hatten mich im Krankenhaus besucht. Wahrscheinlich aus reiner Neugierde. Niemand hatte mich gefragt, wie es passiert war, und ich war froh darüber, denn ich konnte es ihnen nicht sagen. Ich wusste es immer noch nicht.
    Schrilles Kreischen zerriss die gedämpfte Beerdigungsatmosphäre, als Hunderte von Krähen flügelschlagend über unsere Köpfe flogen. Sie
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