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Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Titel: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen
Autoren: Karl Marlantes
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leichter wird es für sie, ihre Erfahrungen hinterher zu verarbeiten. Es kann helfen, etwas Sinn in einer oft als sinnlos empfundenen Situation zu stiften. So wie es jetzt alltägliche Praxis ist, werden Denken und Empfinden junger Soldaten jedoch einfach übel zugerichtet. Jemanden zu töten, lässt dich keinesfalls unberührt. Ein Teil von dir wird denken, dass du etwas Falsches getan hast, so ist es dir von klein auf eingetrichtert worden. Wirst du rechtzeitig darauf vorbereitet, leidest du weniger darunter: Wissen und Struktur können etwas Schutz bieten, sich als eine Art Rüstung erweisen. Warum aber legen wir uns diese Rüstung erst nach dem Krieg an? So war es bei mir.
    Ich erinnere mich, dass ich noch fünf Jahre nach meiner Rückkehr mit Veteranenfreunden über all diesen Unsinn gelacht habe, über Albträume und bizarre Verhaltensweisen infolge der Kriegserlebnisse. Mir ging es doch gut. Ich hatte all meine Erfahrungen tief, tief in meinem Unterbewusstsein vergraben, und es ist schon komisch, wie ich über die Jahre nur Jobs mit hohem Adrenalinfaktor annahm und ständig unterwegs war. Meine älteste Tochter hat mir mehr als einmal vorgehalten, dass sie innerhalb von acht Jahren auf zwölf unterschiedliche Schulen gehen musste.
     
    Es ist schlimm genug, dass wir unseren Nachwuchs schlecht vorbereitet in den Krieg schicken, das heißt schlecht vorbereitet auf die spirituellen und psychologischen Folgen der Kampfhandlungen. Dazu kommt, dass sich diese Kampfhandlungen zunehmend mit unserer normalen, zivilen Welt verweben. Durch Handys, Facebook, Twitter, Flugreisen und ferngesteuerte Waffen ist das Schlachtfeld heute weit weniger klar definiert, die blutigen Ergebnisse, die sich mit unseren modernen Waffen erzielen lassen, können so gut wie unbemerkt bleiben. Denken Sie an die Bomberbesatzungen, die in den Vereinigten Staaten aufsteigen, zu Bombardements in den Irak oder nach Libyen fliegen und ihren Ehepartnern und Kindern sagen, dass sie heute etwas später nach Hause kommen. Denken Sie an die junge Frau, die den Startknopf eines Cruise-Missile auf ruhiger See Hunderte von Meilen von ihrem »Ziel« entfernt drückt, oder die Piloten, die ihren Job von neun bis fünf an einer Computerkonsole in Nevada verbringen, von wo aus sie mit Drohnen Menschen im Irak und in Afghanistan töten, um anschließend in ihr Heim in Suburbia zurückzukehren. Was für einen psychischen Spagat erfordert es, Tod und Zerstörung über eine Gruppe Terroristen zu bringen – junge Männer mit Müttern und einem fehlgeleiteten Idealismus, der sie schreckliche Verbrechen hat begehen lassen, dennoch sind es junge, tapfere Männer – und anschließend zum Abendessen mit Frau und Kind nach Hause zu fahren. »Hattest du einen schönen Tag im Büro, Schatz?«
    Der Tod ist so nur für jene nicht abstrakt, die er ereilt. Wir müssen uns
bewusst
damit auseinandersetzen, diese Unausgewogenheit moderner Kriegsführung auszugleichen. Auf dem Spiel steht nicht allein die geistige Gesundheit unserer jungen Kämpfer, sondern unsere Menschlichkeit insgesamt.
    Ich habe nichts gegen einen Truthahn zu Thanksgiving. Als Soldat hätte ich sehr, sehr gerne welchen bekommen. Was ich sage, ist, dass die Möglichkeiten transformativer psychologischer Erfahrungen enorm zurückgehen, wenn man kriegerische Handlungen mit den Annehmlichkeiten eines wärmenden Zuhauses verbinden kann. Man weiß nicht so einfach, dass man sich im geheiligten Tempel des Mars und des Todes befindet, wenn es gleich darauf wieder nach Hause geht. Im Zweiten Weltkrieg dauerte es für gewöhnlich zwei Monate, das Schlachtfeld auch nur zu erreichen oder davon heimzukehren. In Vietnam setzten wir die Leute in Flugzeuge, und in manchen Fällen dauerte es nur Stunden, aus der Schlacht nach Hause zu kommen. Heute kann ein Soldat Patrouille gehen und jemanden töten, oder einer seiner Kameraden wird getötet – und abends ruft er seine Freundin an, um mit ihr über alles Mögliche zu reden, nur nicht über die Geschehnisse seines Tages. Und wenn die Gesellschaft selbst versucht, die Grenzen zwischen Krieg und Alltag zu verwischen, indem sie sich bewusst bemüht, dem Soldaten alle Annehmlichkeiten seines Zuhauses, moderne Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten zu bieten, welche Chance hat der normale Achtzehnjährige dann noch, diese Dinge nicht durcheinanderzubringen? [3]
     
    Mein eigener Fronturlaub war ein typisches Beispiel dieser Vermischung zweier Welten und der fehlenden
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