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Was dein Herz nicht weiß

Was dein Herz nicht weiß

Titel: Was dein Herz nicht weiß
Autoren: S Park
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nicht mal so unterschiedlich«, bemerkte sie, überrascht, dass Min ihm das berichtet hatte. Sie selbst hatte es Min nur beiläufig erzählt und freute sich, dass er es sich gemerkt hatte. »Von der Literatur lernt man, wie Menschen sich verhalten. Und man kann sich in Empathie üben. Davon profitiert man später als Diplomatin.«
    »Wolltest du schon immer Diplomatin werden?«, fragte Yul, während er sich gleichzeitig weiter umschaute.
    »Nein. Als ich klein war, wollte ich Kellnerin werden.« Da lachte Yul, und Soo-Ja lächelte zurück. Der Bus fuhr weiter.
    »Ich fand die Dienstkleidung so schön, und mir gefiel die Idee, andere Menschen den ganzen Tag über zu verköstigen. Danach wollte ich dann Journalistin werden, weil ich Spaß daran hatte, mich mit Sprache zu beschäftigen. Aber der Krieg hat alles verändert.«
    Soo-Ja blickte nach draußen und dachte daran, was sie aus dem Autofenster gesehen hatte, als sie damals aus der Stadt geflohen waren: endlose Reihen von Flüchtlingen, die auf den schmalen Straßen über den Reisfeldern liefen, manche mit ihrem Hab und Gut auf dem Rücken. Andere teilten sich ihre Lasten und trugen jeweils ein Ende eines Stocks, an den sie die Säcke mit ihren Habseligkeiten gebunden hatten. Sie liefen im Gänsemarsch, wie Sträflinge in einer Kolonne, mit gesenktem Blick. Manchmal sah einer auf, wenn das Auto vorbeifuhr, und sie nickte demjenigen zu, als würde sie ihn kennen. Wenn es ein Mädchen war, lächelte sie sogar, wie um zu sagen: Wir sehen uns am Ziel, wir treffen uns am Meer. Es wird alles gut werden.
    »Meine Eltern und ich mussten fliehen – wie alle anderen auch – , nach Pusan ans Meer. Wir konnten bei einer Tante in Haundae wohnen und erlebten den ganzen Herbst und Winter hindurch, wie immer mehr Flüchtlinge ankamen. Ich weiß noch genau, wie die Wächter all die Frauen und Kinder in die Camps gestopft haben. Viele Flüchtlinge trugen Kleider, die man aus alten Armeeuniformen zusammengenäht hatte, schliefen auf der Straße und erleichterten sich auch dort. Überall waren Ratten. Und ich erinnere mich, wie die kleinen Jungen mit rasierten Schädeln und Blechbüchsen in der Hand hinter den Armeejeeps herrannten und um Essen bettelten. Meine Familie hatte Glück. Mein Vater hatte seine Schuhfabrik zu einer Uniformfabrik umgerüstet, und dafür war ihm der Präsident sehr dankbar. Wir konnten im großen Haus meiner Tante wohnen und mussten während des Krieges nie hungern. Es gab sogar Ananas zu essen!«
    »Du solltest deswegen keine Schuldgefühle haben«, sagte Yul. »Vermutlich hat dein Vater vielen Soldaten das Leben gerettet.«
    »Na ja, ich habe jeden Tag Geschichten gehört über Leute, die umgekommen sind, über verstümmelte Körper, die irgendwo auf den Straßen lagen. Es war grauenvoll. Damals war ich vierzehn.«
    »Ist jemandem in eurer Familie etwas zugestoßen?«
    »Nein, keinem. Das war wie ein Wunder. Ich erinnere mich noch an den Tag, als alles vorbei war und wir wieder nach Hause kamen. Alles war kaputt – die Häuser waren ausgebombt, die Straßen voller Schutt. Nur unser Haus war stehen geblieben. Ein paar Leute lebten darin, hauptsächlich Männer: Fahnenflüchtige, Vagabunden, Landstreicher. Sie schliefen auf dem Boden. Ein paar von ihnen spielten Hato. In ihren Mienen lag eine gewisse Langeweile, so als wäre es ihnen völlig egal, dass der Süden Daegu zurückerobert hatte.«
    »Und was ist dann passiert?«
    »Mein Vater hat sie rausgeworfen. Mit seiner Fabrikantenstimme – freundlich, aber bestimmt. Es klang so wie: Geht jetzt, bevor der richtige Eigentümer euch erwischt, und der ist viel gemeiner als ich. Keiner protestierte, sie standen einfach auf und verließen das Haus. Meine Mutter gab jedem etwas Geld, genug für ein warmes Essen. Alle nahmen es an, aber keiner dankte ihr oder schaute ihr auch nur in die Augen. Ich fragte mich, wohin sie wohl gingen.« Soo-Ja schwieg kurz und blickte Yul an. »Willst du das alles wirklich hören?«
    »Ja. Erzähl weiter«, bat er. Der Bus fuhr jetzt schneller über die nun asphaltierte Straße. Soo-Ja konnte den Geumho-Fluss durch das Fenster erkennen. Auf dem Wasser lagen die Strahlen der Sonne, so ruhig wie die ausgestreckten Arme eines Liebhabers.
    »In dieser Nacht schliefen wir in den nackten Zimmern. Alles, was wir hatten, war weg. Sie hatten unsere Möbel mitgenommen, jeden einzelnen Tonkrug aus der Küche, die Kommoden, die Bücherregale, Lampen und Schreibtische. Und das, was sie nicht
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