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Walloth, Wilhelm: Im Schatten des Todes. 1909

Walloth, Wilhelm: Im Schatten des Todes. 1909

Titel: Walloth, Wilhelm: Im Schatten des Todes. 1909
Autoren: Walloth
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mir geradezu einen Gefallen, wenn Sie ihn verklagen.«
    Dr. Simmer kämpfte heftig mit sich selbst. Seine an sich schon harte Miene nahm einen fanatisch-starren Ausdruck an. »Ich bin allerdings,« stammelte er betreten, »so tief in meiner Ehre verletzt . . ., daß ich in der Tat . . . nicht weiß . . .«
    Der Direktor schüttelte dem Gekränkten die Hand. »Bleiben Sie bei Ihrer Klage,« sagte er, gewissermaßen den zweiten Brutus spielend, »mein ungeratner Sohn soll seine unverschämte Anmaßung büßen! Ich habe im gesagt: »Du mußt aus der Schule; noch vorm Examen. Also – bleiben Sie bei Ihrer Klage.«
    Er drückte dem Beleidigten noch einmal die Hand und eilte davon, nach seiner Klasse. Die Glocke hatte bereits das Zeichen zum Wiederbeginn des Unterrichts gegeben.
    »Ich werde mir die Sache überlegen, Herr Direktor!« rief ihm der Theologe nach.
    »Überlegen Sie nichts!« gab Körn zurück, »handeln Sie, Herr Doktor.«
    Während dieser Gespräche im Lehrerzimmer, hatte Karl Körn im großen Schulhof gestanden und träumerisch den immer gelber sich färbenden Wipfel der Linde betrachtet, die sich als traurige Einsiedlerin mitten in der kahlen Sandwüste dieses Hofs erhob. Dem sensibeln Menschen hauchten die Schauer des nahenden Herbstes durch die Seele.
    Er stand gerade in jenem Alter, in dem der Sinn für die Lyrik – Uhland, Lenau, Mörike – dem jugendlichen Deutschen zur Religion wird, in dem Alter, in dem ein fallendes Blatt uns Tränen entlockt, der feuchte, kühle Herbstwind uns erzählt von den Gräbern der Lieben, deren dürre Kränze er des letzten Blätterschmucks beraubt.
    »Tote, ihr auch müßt entbehren,
Was euch Liebe möcht gewähren!«
    hatte er selbst gesungen.
    Karl war eine eigenartige Natur. Er war als Kind von äußerst zarter ätherischer Gestalt, bleich, mit Träumeraugen, nervös zuckend. Schon von frühester Jugend an lebte in ihm ein heftiger Drang, Gott zu ergründen. Kein Mensch wußte, daß er sich, wenn er als Zwölfjähriger einsam durch die Waldungen wandelte, die Probleme, die der Religionslehrer in der Stunde aufgeworfen, auf seine Art zurecht zu legen suchte. Zunächst grübelte er darüber nach, ob Gott wohl in der Welt sitze oder sie von außen lenke, und kam zu dem Resultat, daß die Welt gewissermaßen Gottes Kleid sei. Kein Mensch ahnte seine jugendlichen Kämpfe. Nur seine alte, jetzt verstorbene Großmutter hatte eine dunkle Ahnung von des Knaben tiefem Gemüt. Er erinnerte sich, daß sie ihn einst, als etwa Zehnjährigen an ihr Krankenbett hatte rufen lassen. Er wäre gern mit den Kameraden draußen herumgetollt, doch der armen Kranken zu lieb, hielt er es im halbdunkeln Zimmer aus. Sie wollte nichts, als ihn betrachten, seine Hand halten, wenn er neben dem Bett auf dem Stuhl saß. Ihn griff diese weihevolle Bewunderung einer schwer Leidenden heftig an, ohne daß er sich zu erklären vermochte warum? Sie sprach so sanft und innig zu ihm: »Sieh Karlchen, du bist nicht wie andre Menschen, du bist ein Ausnahmegeschöpf, du wirst im Leben sehr unglücklich werden. Dein Gemüt, dein Geist ist zu fein für diese rohe Welt. Liebe nur immer die Natur, versenk dich in ihre Geheimnisse, sie spricht zu dir, sie gibt dir Trost und Mut. Du hast zu viel Phantasie, du wirst ewig ein großes Kind bleiben. Die Menschen werden dich nicht verstehen, dich gar hassen; aber laß dichs nicht kümmern und geh ruhig deinen Weg weiter. Weißt du noch, wie du als fünfjähriges Kind gern durch alle Zimmer gestürzt bist und riefst: ich kann fliegen, ich kann fliegen? Du fühltest damals schon an dem inneren Aufstreben deiner Seele, daß dein Reich nicht von dieser Welt war!« Dann starb die alte Großmutter, das einzige Wesen, das er geliebt und hinter dessen Leichenwagen er in Schmerz aufgelöst einherwandelte, während der Schnee vom grauen Himmel in leichten Flöckchen wirbelte. Später grübelte er weiter nach über das Wesen Gottes. Auf seinem jetzigen Standpunkt sagte er sich: Gott ist die Leidenschaft! Er erblickte Gott stets in den Empfindungen, die ihn augenblicklich durchströmten . . . Das waren schon seit Monaten jugendliche Herzensangelegenheiten! Er liebte Emma Dorn mit der ganzen Kraft seiner bald zwanzigjährigen Seele und diese Leidenschaft verwob er nun mit der Naturbetrachtung. Die Natur trat ihm, infolge seines leidenschaftlichen Begehrens, menschlich näher. Sie redete deutlicher zu ihm als früher; er erblickte das Gesicht Gottes durch ihre schöne
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