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Wallander 07 - Mittsommermord

Wallander 07 - Mittsommermord

Titel: Wallander 07 - Mittsommermord
Autoren: Henning Mankell
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leben. Am äußersten Rand des Meeres, in undichten Holzhäusern, in Armut und unter ständigen Entbehrungen.
    Hier fing Schweden an, und hier hörte es auf. Hier befand er sich in der Mitte von etwas, was er nicht richtig fassen oder benennen konnte. Wenn die Geschichte eine Landschaft war, konnte er sich sowohl nach vorn als auch zurück wenden, alles zur gleichen Zeit.
    Im Norden der Senke mit den Überresten von Hausgründen ragte eine Felshöhe auf, wohl der höchste Punkt der Schäre. Er suchte mit dem Blick nach einem Weg dort hinauf. Mehrmals glitt er aus, einmal rutschte er ab und riß sich ein Loch ins Hosenbein. Aber schließlich hatte er die Spitze erreicht. Das auf der Dünung wiegende Boot wirkte klein von hier oben. Wallander blickte um sich. Offenes Meer, Riffe und Untiefen nach Norden und Osten. Nach Süden und Westen zu verdichteten sich die Schären. Vögel stiegen und sanken mit den Aufwinden. Aber keine Schiffe, keine einsamen Segelboote, die zum Winter den Heimathäfen entgegenlenzten. Die Fahrwasser lagen verlassen, die Seezeichen standen auf unsichtbaren Gründen wie verlassene Statuen in einem Museum, das für die Saison geschlossen hat.
    Wallander kam sich vor wie auf einem hohen Turm. Von hier aus konnte er eine Positionsbestimmung vornehmen. Die Schäre und der Ausblick aufs Meer erlaubten keine Ausflüchte.
    Bald würde er fünfzig sein. Den größten Teil seines Lebens hatte er längst hinter sich. Er konnte nicht zurückgehen und von vorn beginnen. Einige Jahre zuvor hatte er sich lange mit dem Gedanken getragen, ob er bei der Polizei aufhören und sich ein neues Berufsfeld suchen sollte. Vielleicht als Sicherheitsbeauftragter bei einem Unternehmen? Er hatte Stellenanzeigen ausgeschnitten, er hatte sich fast entschieden und es dann doch nicht getan. Jetzt wußte er, daß daraus nichts mehr werden würde. Er war Polizist, |604| und er blieb Polizist. Er würde Ystad nicht verlassen. Mindestens zehn Jahre würde er noch in seinem Büro im Polizeipräsidium sitzen. Dann würde er ein letztes Mal durch die Türen hinausgehen, als Pensionär.
    Wie würde er bis dahin durchhalten? Er spähte aufs Meer hinaus, als hoffe er, dort eine Antwort zu finden. Aber da war nichts als die stumme Dünung.
    Er dachte daran, daß es immer härter werden würde. Immer mehr ausrangierte Menschen, immer mehr Jugendliche, die nie etwas anderes erleben würden als das Gefühl, nicht gebraucht zu werden. Gitter und Sicherheitsschlösser würden die kommenden Jahre prägen.
    Polizist zu sein bedeutete eigentlich nur eins, dachte er. Widerstand zu leisten. Allem zum Trotz gegen die destruktiven Kräfte und ihren Würgegriff anzukämpfen.
    Aber er wußte, daß diese Antwort nicht ausreichte. Wenn überhaupt etwas Wahres daran war. Schwedische Politiker waren in aller Regel unbescholten, die Gewerkschaften weder von der Mafia noch von Seilschaften beherrscht. Schwedische Unternehmer trugen keine Waffen, streikende Arbeiter wurden selten mit Gummiknüppeln niedergeschlagen. Und doch weitete sich der Riß, der durch die Gesellschaft ging, unaufhörlich. Vielleicht erinnerte es an die Landhebung, die so langsam erfolgte, daß man sie erst im nachhinein bemerkte. Aber der Riß war da, und er ließ sich nicht wegdenken. Eine neue große Teilung des Volks ging im Land vor sich. In Menschen, die gebraucht wurden, und Menschen, die unnötig waren. In dieser Wirklichkeit Polizist zu sein, würde immer schwierigere Wahlsituationen mit sich bringen. Sie würden weiterhin eine Oberfläche sauberhalten, obwohl die Fäulnis darunter weiterbestand, in der tragenden Konstruktion der Gesellschaft.
    Alles würde härter werden. Er hatte Grund, den Jahren, die ihm noch blieben, mit Furcht und Beben entgegenzusehen.
    Sein Blick fing Westins Boot ein.
    Er konnte nicht länger hier oben bleiben. Westin hatte zwar gesagt, er habe Zeit. Aber er war nun schon lange fort.
    Noch einen Augenblick nahm er alles in sich auf. Die Aussicht, den Überblick, das Gefühl, sich im eigenen Zentrum zu befinden.
    |605| Tastend und vorsichtig machte er sich an den Abstieg.
    Unterwegs verweilte er noch einen Augenblick bei den alten Hausgründen. Hier und da lagen Steine, die vielleicht zum Fundament gehört hatten. Er bekam das Gefühl, daß sie langsam dahin zurückwanderten, woher sie einst geholt worden waren.
    Als er an den Strand hinunterkam, hob er einen Gesteinssplitter auf und steckte ihn als Erinnerung in die Tasche. Dann ging er zurück zu dem
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