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Wallander 06 - Die fünfte Frau

Wallander 06 - Die fünfte Frau

Titel: Wallander 06 - Die fünfte Frau
Autoren: Henning Mankell
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Manchmal glaubte er, daß es sich so verhielt, dann wieder nicht. Er kam in diesem Punkt zu keiner Klarheit.
    Über Eugen Blomberg hatte sie nicht viel zu sagen. Sie schilderte, wie sie die Zettel gemischt hatte, von denen ein einziger ein Kreuz hatte. Dann hatte der Zufall entschieden, wann er oben lag. Genau so, wie der Zufall ihre Mutter getötet hatte.
    Dies war einer der Punkte, wo er ihre Darstellung unterbrach. Im allgemeinen ließ er sie frei sprechen, half ihr nur hier und da mit Fragen weiter, wenn sie selbst nicht weiterwußte. Aber hier unterbrach er sie.
    »Sie haben also das gleiche getan wie die, die Ihre Mutter töteten«, sagte er. »Sie haben es dem Zufall überlassen, Ihnen die Opfer auszusuchen. Der Zufall herrschte.«
    |553| »Das kann man nicht vergleichen«, erwiderte sie. »Alle die Männer, deren Namen ich hatte, verdienten ihr Schicksal. Ich gab ihnen Zeit mit meinen Zetteln. Ich verlängerte ihr Leben.«
    Er fragte nicht weiter, weil er einsah, daß sie auf eine dunkle Art und Weise recht hatte. Widerwillig dachte er, daß sie ihre ganz eigene und schwer bezwingbare Wahrheit hatte.
    Er dachte auch, als er die Abschrift seiner Gesprächsaufzeichnungen durchlas, daß dies sicherlich ein Geständnis war. Aber es war zugleich eine noch äußerst unvollständige Erzählung, eine Erzählung, die die wahre Bedeutung des Geständnisses erklären konnte.
    Gelang ihm, was er sich vorgenommen hatte? Wallander war später immer sehr wortkarg, wenn er über Yvonne Ander sprach. Er wies stets auf die Abschrift der Gesprächsaufzeichnungen hin. Aber da stand natürlich nicht alles. Die Sekretärin, die sie abtippte, beklagte sich häufig bei ihren Kolleginnen darüber, daß sie kaum lesbar waren.
    Was dennoch daraus hervorging, sozusagen Yvonne Anders Vermächtnis, war die Geschichte eines Menschenschicksals mit entsetzlichen Kindheitserlebnissen. Wallander dachte immer wieder, daß die Zeit, in der er lebte – und die Zahl seiner Lebensjahre deckte sich fast mit der von Yvonne Ander   –, eine einzige und entscheidende Frage aufwarf: Was tun wir eigentlich mit unseren Kindern? Sie hatte erzählt, wie ihre Mutter ständig vom Stiefvater mißhandelt worden war, der ihrem leiblichen Vater nachfolgte, der seinerseits einfach verschwunden und in ihrer Erinnerung verblaßt war wie eine unscharfe und seelenlose Fotografie. Aber das Schlimmste war gewesen, daß ihr Stiefvater ihre Mutter zu einer Abtreibung gezwungen hatte. Sie hatte nie die Schwester erleben dürfen, die ihre Mutter in sich getragen hatte. Sie hatte nicht wissen können, ob es wirklich eine Schwester war, vielleicht war es ein Bruder, doch für sie war es eine Schwester, die eines Nachts in den frühen fünfziger Jahren in ihrer Wohnung gegen den Willen der Mutter gewaltsam abgetrieben worden war. In ihrer Erinnerung war diese Nacht eine blutige Hölle. Und als sie Wallander davon erzählte, hob sie den Blick vom Tisch und sah ihm direkt in die Augen. Ihre Mutter hatte auf einem Laken auf |554| dem ausgezogenen Küchentisch gelegen, der Abtreibungsarzt war betrunken, der Stiefvater im Keller eingeschlossen, vermutlich ebenfalls betrunken, und da war sie ihrer Schwester beraubt worden, und von dem Augenblick an hatte sie die Zukunft immer als eine Finsternis betrachtet, bedrohliche Männer warteten hinter jeder Straßenecke, Gewalt lauerte hinter jedem freundlichen Lächeln, jedem Atemzug.
    Danach hatte sie ihre Erinnerungen in einem geheimen Winkel ihrer Seele verbarrikadiert. Sie hatte eine Ausbildung gemacht, war Krankenschwester geworden, und sie hatte stets die unklare Vorstellung, daß es ihre Pflicht sei, einmal die Schwester, die sie nie bekommen hatte, und die Mutter, die diese Schwester nicht hatte zur Welt bringen dürfen, zu rächen. Sie hatte Erzählungen von mißhandelten Frauen gesammelt, sie hatte die toten Frauen in lehmigen Äckern und småländischen Seen aufgespürt, sie hatte ihre Schemata gezeichnet, Namen in ein Journal eingetragen, mit ihren Zetteln gespielt.
    Und dann war ihre Mutter ermordet worden.
    Sie beschrieb es Wallander beinahe poetisch.
Wie eine stille Flutwelle
, sagte sie.
Mehr war es nicht. Ich erkannte, daß die Zeit gekommen war. Dann verging ein Jahr. Ich habe geplant, den Zeitplan vollendet, der mir in all diesen Jahren geholfen hatte zu überleben. Dann grub ich in den Nächten einen Graben.
    Dann grub sie in den Nächten einen Graben.
    Genau diese Worte.
Dann grub ich in den Nächten einen
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