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Wallander 05 - Die falsche Fährte

Wallander 05 - Die falsche Fährte

Titel: Wallander 05 - Die falsche Fährte
Autoren: Henning Mankell
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Vierteln von Haus zu Haus gegangen, doch ohne Erfolg. Wie Pedro war sie das Kind eines
campesino
, und ihr Dorf lag nicht weit von Pedros Dorf entfernt. Sie gingen gemeinsam aus der Stadt hinaus, plünderten Bananenbäume, um sich satt zu essen, und gingen immer langsamer, je näher sie ihrem Dorf kamen.
    Zwei Jahre später, im Mai, noch bevor die Regenzeit begann, hatten sie geheiratet und waren in Pedros Dorf gezogen, wo er von einem seiner Onkel ein kleines Haus bekommen hatte. Pedro arbeitete auf einer Zuckerrohrplantage, während Dolores Gemüse anbaute, das sie an die Aufkäufer abgab, die vorbeikamen. Sie waren arm, aber jung und glücklich.
    Nur eine Sache war nicht, wie sie sein sollte. Nach drei Jahren war Dolores noch immer nicht schwanger. Sie sprachen nie darüber. Aber Pedro spürte, daß Dolores immer unruhiger wurde. Ohne sein Wissen hatte sie auch heimlich die
curiositas
an der Grenze zu Haiti besucht und Hilfe gesucht, doch hatte sich nichts verändert.
    Es dauerte acht Jahre. Aber eines Abends, als Pedro von der Zuckerrohrplantage zurückkehrte, kam sie ihm entgegen und erzählte, daß sie schwanger war. Am Ende des achten Jahres ihrer |14| Ehe brachte Dolores eine Tochter zur Welt. Als Pedro sein Kind zum erstenmal erblickte, sah er sofort, daß es die Schönheit seiner Mutter geerbt hatte. An jenem Abend ging Pedro in die Dorfkirche und opferte einen Goldschmuck, den er von seiner Mutter bekommen hatte, als sie noch lebte. Er opferte ihn der Jungfrau Maria und dachte, daß sogar sie, mit ihrem in Windeln gewickelten Kind, an Dolores und ihre neugeborene Tochter erinnerte. Danach ging er nach Hause und sang auf dem Weg so laut und kräftig, daß die Menschen, denen er begegnete, ihn ansahen und sich fragten, ob er zuviel von dem vergorenen Zuckerrohrsaft getrunken habe.
     
    Dolores schlief. Sie atmete immer heftiger und bewegte sich unruhig.
    »Du kannst nicht sterben«, flüsterte Pedro und merkte, daß er seine Verzweiflung nicht mehr kontrollieren konnte. »Du kannst nicht sterben und mich und unsere Tochter allein lassen.«
    Zwei Stunden später war alles vorbei. Für einen kurzen Augenblick wurde ihr Atem ganz ruhig. Sie schlug die Augen auf und sah ihn an. »Du mußt unsere Tochter taufen lassen«, sagte sie. »Du mußt sie taufen lassen, und du mußt für sie sorgen.«
    »Bald geht es dir wieder besser«, sagte er. »Wir gehen zusammen in die Kirche und lassen sie taufen.«
    »Ich bin nicht mehr da«, sagte sie und schloß die Augen.
    Dann war sie nicht mehr.
     
    Zwei Wochen später verließ Pedro mit seiner Tochter in einem Korb auf dem Rücken das Dorf. Sein Bruder Juan begleitete ihn auf dem ersten Wegstück. »Weißt du, was du tust?« fragte er.
    »Ich tue nur das, was notwendig ist«, antwortete Pedro.
    »Warum mußt du in die Stadt gehen, um deine Tochter taufen zu lassen? Warum kannst du sie nicht hier im Dorf taufen lassen? Diese Kirche hat für dich und mich getaugt. Und für unsere Eltern vor uns.«
    Pedro blieb stehen und sah seinen Bruder an. »Acht Jahre haben wir auf ein Kind gewartet. Als schließlich unsere Tochter kam, |15| wurde Dolores krank. Keiner konnte ihr helfen. Keine Doktoren, keine Mediziner. Sie war noch nicht dreißig. Und sie mußte sterben. Weil wir arm sind. Weil wir voll sind von den Krankheiten der Armut. Ich habe Dolores damals getroffen, als du beim Karneval verschwunden bist. Jetzt will ich zu der großen Kathedrale zurückkehren, die an dem Platz liegt, wo wir uns begegnet sind. Meine Tochter soll in der größten Kirche getauft werden, die es hier im Land gibt. Das ist das mindeste, was ich für Dolores tun kann.«
    Er wartete Juans Antwort nicht ab, sondern wandte sich um und ging weiter. Als er spät am Abend das Dorf erreichte, aus dem Dolores einst gekommen war, blieb er im Haus ihrer Mutter. Noch einmal erklärte er, wohin er unterwegs war. Die alte Frau schüttelte besorgt den Kopf. »Deine Trauer treibt dich in den Wahnsinn«, sagte sie. »Denk lieber daran, daß es deiner Tochter nicht guttut, den langen Weg nach Santiago auf deinem Rücken geschüttelt zu werden.«
    Pedro antwortete nicht. Früh am nächsten Morgen setzte er seine Wanderung fort. Die ganze Zeit sprach er mit dem Kind, das im Korb auf seinem Rücken hing. Er erzählte alles, was er von Dolores wußte. Wenn er nichts mehr zu sagen hatte, fing er wieder von vorn an.
     
    Er kam an einem Nachmittag in die Stadt, als schwere Regenwolken sich am Horizont auftürmten. Vor dem
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