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Walden Ein Leben mit der Natur

Walden Ein Leben mit der Natur

Titel: Walden Ein Leben mit der Natur
Autoren: Henry David Thoreau
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sich an wie das leise Klingen der letzten fallenden Flocken. Was sind uns an solchen Tagen Geschichte,
    Chronologie, Überlieferung oder jede geschriebene
    Offenbarung? Die Bäche stimmen einen Lob- und Preisgesang auf den Frühling an. Die Rohrweihe schwebt im Tiefflug über die Wiesen und ist bereits dem eben erwachenden, zarten Leben auf der Spur. In allen Furchen und Mulden rieselt leise der schmelzende Schnee, und das Eis auf dem See schwindet zusehends. Das Gras flammt an den Hängen empor wie ein
    Frühlingsfeuer - etprimitus orbitur herba imbribusprimori-bus evocata -, als sende die Erde ihre innere Glut nach oben, um die wiederkehrende Sonne zu grüßen; nicht gelb, sondern grün ist die Farbe ihrer Flammen! Das Symbol der ewigen Jugend,
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    der Grashalm, strömt wie ein grünes Band aus dem
    Wiesengrund dem Sommer entgegen; vom Frost gehemmt,
    doch nicht am Wachsen verhindert, richtet er, gedrängt von dem neuen Leben in der Erde, seine dürre Lanze aus dem
    Vorjahr auf. Er wächst so unentwegt, wie das Bächlein aus dem Boden sickert, ja, er ist fast identisch mit ihm, denn wenn mit den zunehmenden Junitagen die kleinen Bäche austrocknen, sind die Grashalme ihre Kanäle, und Jahr für Jahr trinken die Herden von diesem nie versiegenden grünen Strom, welchem auch der Schnitter beizeiten den Wintervorrat für sie entnimmt.
    So stirbt auch unser Menschenleben nur bis zur Wurzel und sendet weiterhin seinen grünen Halm in die Ewigkeit.
    Der Waldensee schmilzt zusehends. An seinem West- und
    Nordufer erstreckt sich eine dreißig Fuß lange Wasserrinne, die sich auf der Ostseite noch verbreitert. Ein großes Eisfeld hat sich vom Hauptteil abgespalten. In den Büschen am Ufer tiriliert eine Singammer - tiwitt, tiwitt, tiwitt - tschip, tschip, tschip, tschi, tschrr - tschiwiss, wiss, wiss. Auch sie hilft beim Brechen des Eises mit. Wie hübsch sind die großen ge schwungenen Kurven am Rande des Eises! Sie ähneln ein wenig denen des Ufers, nur sind sie regelmäßiger. Ein vorübergehender Kälteeinbruch hat das Eis wieder verhärtet; es ist mit Wasser überzogen und gewellt. Vergeblich streicht indessen der Wind über die undurchsichtige Fläche nach Osten, bis er jenseits die
    lebendige Oberfläche des Meeres erreicht. Dieses in der Sonne funkelnde Wasserband bietet einen herrlichen Anblick: es ist das unverhüllte Antlitz des Sees, voller Jugend und Heiterkeit, als wollte er die Freude der Fische in seinem Innern, die des Sandes an seinen Ufern ausdrücken. Er ist ein einziger
    Silberglanz, wie aus den Schuppen eines leuciscus
    geschnitten, als wäre er selbst ein munterer Fisch. Das ist der Gegensatz zwischen Winter und Frühling. Der Waldensee war tot, nun ist er wieder zum Leben erwacht. In diesem Frühjahr aber taute er langsamer auf, wie ich schon sagte.
    Der Wechsel von Sturm und Winterkälte zu heiterer, milder Witterung, von dunklen, träge hinschleichenden Stunden zu hellen, beschwingten, ist ein großer Augenblick, den die ganze
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    Natur verkündet. Endlich ist er wie durch einen Zauberschlag da. Ein Strom von Licht erfüllte plötzlich mein Haus, obwohl es dem Abend zuging, der Himmel mit Winterwolken verhangen war und Eisregen von der Dachrinne tropfte. Ich schaute zum Fenster hinaus, und siehe! Wo gestern noch eine graue
    Eisdecke lag, breitete sich der klare See vor mir aus. Ruhig und hoffnungsfreudig lag er da wie an einem Sommerabend und spiegelte in seinem Busen einen Sommerabendhimmel -
    obwohl keiner über ihm zu sehen war -, als stände er mit einem fernen Horizont in Verbindung. Ich hörte eine Wanderdrossel von fernher, die erste seit Jahrtausenden, wie mir schien; ihr Lied werde ich viele Jahrtausende und noch länger nicht vergessen - so süß und eindringlich klang es, wie eh und je. Ah, die Abenddrossel am Ende eines neuenglischen Sommertags!
    Wenn ich je den Zweig fände, auf dem sie sitzt! Ich meine ihn, ich meine den Zweig. Er wenigstens ist kein Turdus migratorius.
    Die Pechkiefern und Zwergeichen rings um mein Haus, die so lange ihre Zweige hängenließen, zeigten plötzlich wieder ihre verschiedenen Merkmale, sahen heller, grüner, aufrechter und lebendiger aus, als hätte sie der Regen tüchtig gereinigt und wiederhergestellt. Ich wußte, daß es nicht mehr regnen würde.
    Man braucht nur irgendeinen Zweig im Wald, ja nur den
    Holzstoß anzusehen, um zu wissen, ob der Winter vorüber ist oder nicht. Als es dunkelte, wurde ich vom Trompeten der Wildgänse
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