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Waisen des Alls

Waisen des Alls

Titel: Waisen des Alls
Autoren: Michael Cobley
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ein Horizont, oben diffuses Dunkelgrau und unten etwas Strukturiertes, ein Meer, begriff sie und spürte auf einmal, dass sie nicht allein war.
    Das also ist ihre Virtualität, dachte sie. Ist sie interaktiv oder adaptiv? Vielleicht kann ich sie ja willentlich verändern.
    Sie durchforstete ihr Gedächtnis nach Kindheitserinnerungen, zum Beispiel an die Sommerferien in einer Ferienanlage am Meer nur für Getunte, an der Küste von Hammergard. Dort gab es einen abgezäunten Strandabschnitt mit Sand und Felsentümpeln. Sie erinnerte sich an den warmen Sand zwischen ihren Zehen, an die kühlen, schlüpfrigen Steine im flachen Wasser, den scharfen Geruch des angeschwemmten Tangs. Und als sie die Augen aufschlug (auf einmal hatte sie welche), sah sie alles vor sich, das weite, ruhige Meer, und da plantschte sie auch tatsächlich barfuß im Wasser, bekleidet mit einem blau
karierten Hemd und einer gelben, bis zu den Knien hochgekrempelten Hose.
    Eine Gestalt kam ihr entgegengeschlendert. Der Strand fiel sanft ab, der blasse Sand war mit kleinen Steinen und Treibholz übersät. Als die Gestalt näher kam, erkannte sie Corazon Talavera, rot gekleidet und einen Sonnenschirm in der Hand.
    »Sehr hübsch«, sagte sie. »Allerdings hätte ich mir deinen Metakosmos ein wenig, hmm, praktischer vorgestellt, mehr wie Konstantins Labor.« Sie stieß einen leisen Pfiff aus. »Das Ding gleicht einer Stadt, richtig groß.«
    Der Himmel hatte inzwischen einen sommerlichen Blauton angenommen. Eine Sonne gab es nicht, doch es herrschte ein sanftes Licht, das Julia irritierend fand. Schweigend plantschte sie im flachen Wasser (das inzwischen mit Felsen und Kieseln angereichert war) und rührte Wolken von Sandkörnern auf.
    »Dein letzter Fluchtversuch hat mir übrigens gefallen«, meinte Talavera lachend. »Ganz schön clever, deine Zelle als Lagerraum und einen Schrank als dein Gefängnis auszuweisen. Ich vermute, der nächste Schritt wäre gewesen, große Container in das Shuttle zu verfrachten.«
    Julia lächelte kühl. »Ich nehme an, Sie haben mein Polymot entdeckt.«
    »Äh … ja, auch das, welches sich vorübergehend deaktiviert hatte. Siehst du? - Ich weiß genau, wie ihr gerissenen Getunten tickt.« Sie zuckte die Achseln. »Aber das liegt jetzt alles hinter uns. Ungeachtet eurer Ränke und Sabotageakte bist du jetzt hier in meiner Virtualität, um für mich zu arbeiten.«
    Am Horizont waren ein paar Wolken. Als Talavera beiläufig darauf zeigte, rasten die Wolken der Küste entgegen, wurden größer und dunkelten ein. Sie verschmolzen
zu einem einzigen bedrohlich dräuenden Wolkengebirge. Dann fiel der Boden zurück, und Julia und Talavera stiegen in die Luft und durchquerten feine Dunstschichten, bis sie das Wolkenungetüm überblicken konnten. Aus der Nähe sah Julia, dass die Wolke aus zahlreichen Ziffern, Symbolen, Symbolfragmenten und Verbindungssträngen bestand, dies alles überzogen von Myriaden glitzernden Flecken. Neugierig berührte Julia einen nahen Fleck … worauf ein Datencluster in ihrem Geist aufblitzte, die Effekte des Gravitationsgradienten eines Planeten auf die anderen Himmelskörper eines Fünf-Planeten-Systems, komplett mit tabellarisch angeordneter Statistik und grafischen Darstellungen …
    Dann verblassten die Daten wieder.
    »Fünfhundert Welten«, sagte Talavera und schwenkte theatralisch den Arm, als wollte sie die ganze Wolke umfassen. »Detaillierte Informationen über die Sternkoordinaten jedes beliebigen zukünftigen Datums, komplett mit realistischen Umlaufbahnen und Geschwindigkeiten, Systemgravitationsmatrix und noch vielem mehr!« Blinzelnd blickte sie Julia an und lächelte boshaft, wie es ihre Art war. »Das sind nur hundert Welten für jeden, und ihr braucht wie bei eurem letzten Erfolg nur euer erstaunliches Gehirn einzusetzen, um Kursdaten zu erhalten.«
    Julia blickte sie an. »Kursdaten für weitere Raketen?«
    »Ich verfüge über fünfhundert Stück, und die finden nicht von allein ins Ziel.«
    Julia schwieg fassungslos.
    »Hör mal, es ist nicht so, wie du denkst«, fuhr Talavera fort. »Hier geht es nicht um Massenmord, sondern um Präzisionsangriffe auf einige Pro-Hegemonie-Welten, auf hohe Vertreter von Monoclans, Militärindustrielle, Multiplikatoren
aus dem Kulturleben, kriegslüsterne Politiker, Verhörspezialisten und zahlreiche andere unangenehme Typen. Es dürfte dich auch interessieren, dass die meisten deiner Kollegen bereits mit voller Kraft bei der Arbeit sind, und zwar
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