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Wahr

Wahr

Titel: Wahr
Autoren: Riikka Pulkkinen
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über sich selbst: »Ich habe auf dem Fußboden gelegen.«
    Dann weinte sie, es begann mit einer kleinen Träne und schwoll zu einem Beben im ganzen Körper. Eleonoora wusste nichts anderes, als ihre Tochter zu halten. Da standen sie also. Sie erinnerte sich an das alte Trostritual, den Heilungs-Reim, den bereits ihre Mutter aufgesagt hatte, als sie Kind war. Ihre Mutter hatte sie auf den Schoß genommen, wenn sie sich wehgetan hatte, und den Reim beruhigend in ihr Ohr geflüstert. Eleonoora hatte ihn zum letzten Mal aufgesagt, als Maria zehn war. Aber sie musste nicht nach den Worten suchen, sie sprudelten aus ihr heraus.
    Anna hörte zu und beruhigte sich ein wenig. »Das Bienengedicht. Ich hatte es schon ganz vergessen.«
    Anfangs hatte Eleonoora Sorge, dass Annas Trauer nicht enden würde. Im Geiste hatte sie schon die Diagnose Depression gestellt, hatte ihre Tochter behutsam aufgefordert, sich Hilfe zu holen. Schließlich ließ sie von ihren Vorstößen wieder ab. Das Herz eines jungen Menschen ist manchmal wie aus Blei. Durch zufällige Begebenheiten wird es schwerer und schwerer, bis es durch Beliebigstes untergehen kann. Doch ebenso schnell wird es wieder leicht und vergisst all seine Ernsthaftigkeit.
    Und so kam es auch. Nun war Anna mit Matias zusammen, der verschlissene T-Shirts trug und hundert zärtliche Gesichter hatte, aber nur eins für den seltenen Fall, dass er mal böse wurde. Anna war sofort mit ihm zusammengezogen, kaum einen Monat, nachdem sie einander begegnet waren. Wenn Eleonoora ihre Tochter und Matias besuchte, spürte sie neben der Freude auch einen Anflug von Wehmut. Wohin waren die Jahre so schnell verschwunden? Wie war es möglich, dass sie schon so alt geworden war? Dass ihre Tochter bereits ein eigenes Zuhause mit einem sympathischen Freund hatte, ihr Apfelkuchen auf einem Teller servierte, den sie selbst vor über zwanzig Jahren zur Hochzeit bekommen hatte? Eleonoora sah Annas Glück, das eine Spur von Anstrengung enthielt, als müsse ihre Tochter seine Echtheit unter Beweis stellen.
    01:32.
    Eero wälzte sich erneut herum. Eleonoora stand auf. Ihr wurde schwindelig, ihre Knie knickten beinahe ein. Sie holte die Waage aus dem Schrank. 51 Kilo. So wenig wie nur damals nach dem Stillen. Sie verordnete sich einen Schokoladenpudding als Dreingabe zum Frühstück und sah ins Schlafzimmer zu ihrem Mann, hoffte, er würde aufwachen und ihre Bedürftigkeit sehen. Würde Mitleid haben und sie umarmen. Einen Moment stand sie fröstelnd in der Dunkelheit, ihre Schulterblätter ragten in die fahle Nacht.
    Eero hatte seine Knie Richtung Brust gezogen und die Hände zwischen die Oberschenkel gesteckt, so wie immer. Irgendetwas an seinem vertrauensvoll schlafenden Wesen reizte Eleonoora. Das Gefühl war eine Mischung aus Verärgerung und Liebe: Wenn ihre Mutter starb, gab es noch immer diese Familie, für die sie unausweichlich klarkommen musste. Es würde Abende geben, Nächte wie diese. Frühlinge. Eero würde unerschütterlich er selbst bleiben. Und auch sie selbst würde es schaffen. Irgendwann würde sie wieder lachen, doch gerade das war unerträglich. Sie wollte nicht. Sie wollte weinen, wollte sich für den Rest des Lebens in eine Wiege verkriechen und den Verlust betrauern.
    Eleonoora stellte die Waage zurück in den Schrank, wickelte den Morgenmantel fester. Ihr Kopf schmerzte, im Rücken pochte ein Muskel. Sie schloss die Schlafzimmertür, schlich durch die Diele und blieb vor Marias Tür stehen, lauschte. Nichts. Sie gab dem Drang nach und machte die Tür auf, musste ihre Tochter sehen, wenigstens für einen Moment. Die frühe Morgenstunde, der Traum von ihrer Mutter auf der Schaukel, die Panik – sie hatten das alte Kindheitsgefühl der Verunsicherung in ihr wachgerufen: Was war wirklich da, was war wahr? Maria jedenfalls war wirklich. Sie hatte ihre Decke fortgestrampelt und lag mit einem Kissen zwischen den Knien auf der Seite. Ihre Schenkel schimmerten im Dunkeln, der Mund stand offen, die Haare umrahmten in strähnigen Zotteln ihr Gesicht. Sie schmatzte im Schlaf.
    Eleonoora kam es fast komisch vor, dass sie Maria vor zwanzig Jahren in die Welt gepresst hatte. Diese junge Frau, die die Arme einer Bäuerin hatte und ein raues, raumgreifendes Lachen. Letzten Sommer hatte Maria mit ihrer Großmutter am Ufer Flickenteppiche geschrubbt. Da war Elsa noch rüstig gewesen, die Krankheit ließ sich nicht erahnen, aber wahrscheinlich hatte sie sich bereits ihren Weg durch die Labyrinthe
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