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Wahr

Wahr

Titel: Wahr
Autoren: Riikka Pulkkinen
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zwischen den Organen gebahnt. Elsa war noch unwissend gewesen, hatte Teppiche auf das Gerüst gehoben, die Kurbel gedreht, über das Tröpfeln des Wassers gelacht.
    Im Herbst hatte sie ihre alljährliche Vorlesungsreihe an der Universität gehalten. Auch wenn sie schon seit Jahren pensioniert war – die Arbeit gab sie nicht auf. Sie hatte noch immer ihr Büro in der Fakultät, und wie jedes Jahr zog ihre Vorlesung Hunderte von Hörern an. Alle wollten die erfolgreiche Psychologin sehen, an ihrer Klugheit und ihrem Wissen teilhaben. Die Titel für ihre wöchentlichen Veranstaltungen waren Variationen auf Zitate aus ihrem bekanntesten Buch »Individualität und Erkennen«, das sofort mit seinem Erscheinen ein Bestseller wurde. Man wollte Elsa fast zur Übermutter der Nation erheben, oder jedenfalls zur Botschafterin mütterlicher Liebe.
    Eleonoora hatte sich einige Vorlesungen angehört. Für sie waren die besten Momente die danach, wenn sie zusammen im Auto saßen und nach Hause fuhren. Ihre Mutter lehnte dann den Kopf an die Fensterscheibe und seufzte wohlgelaunt, aber auch ein wenig ermattet.
    »Wissenschaft interessiert die wenigsten. Die Leute kommen in Vorlesungen, um frohe Botschaften zu hören.« Ihr Ton klang nicht enttäuscht, eher fügsam, liebevoll, wie eine müde Königin.
    »Mach dich nicht kleiner, als du bist – du hast doch eine frohe Botschaft zu verkünden: Entlässt alle aus ihrer Schuld, Mütter, Väter und Kinder. Du gestattest ihnen, glücklich zu sein.«
    Elsa lächelte. »Warum brauchen sie immer jemand anderen, der ihnen die Erlaubnis dazu gibt?«
    Eleonoora war stolz auf den Erfolg ihrer Mutter. Sie erinnerte sich an die hektischen Abende ihrer Kindheit, bevor ihre Mutter zu Kongressen aufbrach, an die ersehnte Heimkehr, an ihr lautes Weinen, das dem leidenschaftlichen Wunsch entsprang, ihre Mutter zu besitzen, oder zumindest ein Teil von ihr zu werden. Ihre Liebe und Bewunderung waren so bedingungslos und umfassend, dass sie sogar dann litt, wenn ihre Mutter anwesend war.
    Letzten Sommer hatte ihre Mutter ein Fest zu ihrem siebzigsten Geburtstag gegeben. Haufenweise Kollegen gratulierten, auch aus früheren Berufsjahren. Das Interview, das ihre Mutter anlässlich des Jubiläums gab, trug die Überschrift Die Pionierin der Psychologie: messerscharfer Verstand, offene Arme.
    Jetzt schwanden diese Arme langsam dahin. Ihre Mut ter würde nie wieder Teppiche schrubben. Sie würde nicht einmal mehr ihren einundsiebzigsten Geburtstag feiern.
    Eleonora ging die Treppe nach unten. Die Flurtür trug die alten Größenmarkierungen ihrer wachsenden Töchter, Anna, Maria, Anna, Maria. Auf einmal war sie neidisch, fast sogar böse auf ihre Töchter, weil diese noch lange eine Mutter haben würden. Eleonoora schalt sich selbst: Sei nicht kindisch.
    Sie hob die Zeitung auf, die der Bote nachts durch den Briefschlitz der Wohnungstür warf – die tröstlichste Geste an diesem Morgen. Sie machte einen Espresso, erwärmte Milch, goss beides zusammen in eine große Schale. Die getoasteten Brotscheiben butterte sie sorgfältig, geizte nicht mit dem Käse. Beim Essen las sie die Zeitung, lauschte der Amsel. Selbst wenn die Nacht ein Brunnen war, an dessen Grund ihr Schrei verhallte – es gab dennoch diese Amsel. Nachher würde sie zur Arbeit gehen, Routinedinge erledigen, sich selbst beisammen halten. In der Mittagspause würde sie ihre Eltern anrufen, um sicher zu gehen, dass so weit alles in Ordnung war. Nachmittags käme Anna dort zu Besuch, zur Entlastung ihres Großvaters. Achtung, ermahnte Eleonoora sich selbst. Lass deine Tochter ruhig mit ihrer Großmutter allein, fahr erst nach der Arbeit zu ihnen. Nutz die Mittagspause, um noch beim ambulanten Pflegedienst anzurufen und ein paar Details zu klären.
    Alles war für Elsas Heimkehr vorbereitet, das Bett, die Schmerzpumpe, die Medikamente. Die ganze Familie hatte sich im Stadtteil Töölö versammelt, ihre Mutter hatte sich eine Willkommenszeremonie gewünscht. Eleonoora hatte beobachtet, wie ihre Mutter sich ein Stück Kuchen auftat. Die Hand zitterte, der Kuchenheber zerdrückte die Sahne. Vielleicht lag das an den Windeln, die hinter der Wand lauerten? Ihre Mutter wollte beweisen, dass sie zu denjenigen gehörte, die noch selber über ihr Essen bestimmten, zu denen, die lustvoll die verführerische Süße des Kuchens beklagten.
    »Ich nehme noch ein Stück. Gesund ist das nicht, aber schaden wird es mir auch nicht.«
    Während Eleonoora ihr zusah,
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