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Wahr

Wahr

Titel: Wahr
Autoren: Riikka Pulkkinen
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trieben sie Eleonora an, die Herdplatten und die dunklen Ecken unter den Betten zu kontrollieren.
    Anna dagegen – so schien es Eleonoora – hatte sich die Sorge von ihrer Mutter abgeschaut. Vor allem in der letzten Zeit war sie, neben einem tiefen Ernst, der beherrschende Charakterzug gewesen. Im Mai des vorigen ­Jahres hatte Eleonoora ihre Tochter auf dem Fußboden ihrer Wohnung gefunden. Sie wusste bis heute nicht genau, was mit Anna losgewesen war. Währte dieses Unbekannte womöglich schon jahrelang, gab es etwas, das ihre Tochter ihr verschwieg? Annas Freundin Saara hatte sie angerufen, sie klang beunruhigt. Eleonoora wurde mit einem Schlag klar, dass sie weit über eine Woche nichts von ihrer Tochter gehört hatte. Anna wohnte damals in einer kleinen Einzimmerwohnung in der Pen­gerkatu nördlich von Helsinkis Zentrum; sie führte ein abwechslungsreiches Studentinnenleben, da verging schon mal eine Woche, in der sie einander nicht spra­chen. Eleonoora hatte angenommen, dass ihre Tochter abends lernte, spazieren ging oder mit Kommilitonen Wein trank. Und dann hatte sie sich in lauten Selbstgesprä chen gewundert, dass sie so wenig über Annas Leben wuss ­­te.
    »Ich lebe ein anderes Leben als du, Mama«, hatte ihre Tochter einmal gesagt. »Ich lebe in einer anderen Welt.«
    Eleonoora hatte es dabei bewenden lassen, nie weiter nachgebohrt. Saaras Anruf im vergangenen Mai und die tagelange Funkstille ihrer Tochter hatten Eleonoora in Aufruhr versetzt. Sie rief Anna immer wieder an, doch die ging nicht an ihr Handy. Dann nahm sie das Auto und fuhr hin. Zehn Minuten stand sie vor der Wohnungstür und klingelte, schockierende Szenarien blitzten vor ihrem inneren Auge auf. Schließlich wühlte sie den Zweitschlüssel, den Anna ihr beim Einzug gegeben hatte, aus ihrer Tasche hervor und schloss eigenmächtig auf. Die Tür stieß gegen etwas Weiches: Anna rappelte sich träge vom Fußboden auf und sah sie aus verblüffend gleichgültigen Augen an. Es wirkte, als hätte sie geschlafen. Die Haare hingen ihr wirr und fettig ins Gesicht, ihre Haut war fahl.
    »Was willst du denn hier?«
    »Was ist mit dir los?«, fragte Eleonoora bestürzt.
    Anna zuckte mit den Schultern, stand auf, sah an ihr vorbei ins Treppenhaus.
    Eleonoora ließ ihren Blick durch die Wohnung wandern. Manche Stellen wirkten kahl; zwischen einzelnen Büchern waren Lücken im Regal, ein paar Nägel an den Wänden schienen neuerdings ungenutzt. Hatte hier jemand seine Bilder und Sachen gepackt? Oder wollte Anna nur umdrapieren? Zwischen Regal und Sofa hing noch immer das eigenartige Foto von Anna, das von weitem betrachtet wie ein Ölgemälde wirkte: wie Aino aus dem Kalevala-Epos, von Gallen-Kallela gemalt, ein weißer Mädchenkörper im seichten Wasser. Das Foto hatte ein Mann gemacht, mit dem Anna eine Zeitlang zusammen gewesen war. Eleonoora hatte es nie gemocht, hatte die Frau im Wasser nicht als ihre Tochter erkannt. Ein blasses sprödes Wesen, vollkommen anders als das Mädchen, das sie erzogen hatte, mit dem sie an verschlafenen Sonntagen beim Frühstück gekichert und das sie nachts nach schlechten Träumen getröstet hatte. Ein Kind wird geboren, und die Mutter lernt es kennen, nach und nach, mit jedem Jahr besser. Später kommen andere Menschen, durch deren Einfluss einem das Kind fremd wird.
    Eleonoora kannte den Mann nicht, der das Foto gemacht hatte. Sie war ihm zwar ab und zu begegnet, konnte aber nicht sagen, dass sie wirklich etwas von ihm wusste. Der Mann hatte ein Kind: Linda. Manchmal hatte Anna auf das Kind aufgepasst. Eleonoora erinnerte sich an einen Sommertag, Linda und Anna waren bei ihr zu Besuch gewesen. Vanilleeis, Rhabarberkuchen, Schreie aus dem Planschbecken im Garten. Das Mädchen hatte einen kurzgeschnittenen Pony und einen aufmerksamen, vertrauensvollen Blick. Irgendwann döste es auf Annas Schoß ein, fiel in einen tiefen Schlaf, während die Nachtigall sang. In Annas Gesicht sah Eleonoora ihre fast zwei Jahrzehnte alten eigenen Empfindungen gespiegelt: Glück, so intensiv, dass es eine Ahnung von Schmerz enthielt.
    An diesem Tag im Mai hatte Anna einen gänzlich anderen Gesichtsausdruck, gedemütigt, erniedrigt.
    Eleonoora stellte verstört ihre Nachfragen. »Wie lange bist du nicht draußen gewesen?«
    »Ich weiß nicht. Ein oder zwei Wochen.«
    »Warum hast du nicht angerufen?«
    Anna zuckte wieder mit den Schultern. »Ich konnte einfach nicht aufstehen.« Anna sah sie an, sagte erstaunt, als wunderte sie sich
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