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Wahr

Wahr

Titel: Wahr
Autoren: Riikka Pulkkinen
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es ­so weit war. Martti wunderte sich über seine Tochter. Letztlich wusste er nicht mehr von ihr, als er sah: die Organisiertheit, die nahezu nuancenlose Entschlossenheit in ihrem Gesicht. Immer häufiger drängte sich ihm dieser Gedanke auf, der ihn belastete, seit Eleonoora erwachsen geworden war: Diese Frau hatte ihm seine Tochter gestohlen, verbarg die lachende Ella mit den Zöpfen irgendwo hinter ihrer Sachlichkeit. Wenn Martti nur ein Zauberwort aus ihren Mädchenjahren fände, es aussprechen könnte – Eleonoora wäre wieder Ella, würde im Flur herumhüpfen, ihrem Spiegelbild Fratzen schneiden und zusammen mit ihm Eis essen gehen.
    Die Entscheidung, Elsa doch nach Hause zu holen, fiel mit dem überraschenden Angebot der Enkelinnen. Eleo­noora befragte ihre Mädchen eingehend, schilderte ohne Beschönigung, was es hieß, eine Sterbende zu pflegen.
    »Ich habe keine Angst davor«, erwiderte Maria ohne Zögern.
    Obwohl sie die Jüngere war, wirkte sie deutlich reifer als ihre Schwester. Anna hingegen hatte diese Wankelmütigkeit, die Martti leicht besorgt wiedererkannte; genau diese Art von Sensibilität war früher auch ihm eigen. Aber Anna hatte ernst genickt, als Eleonoora ein letztes Mal nach ihrer Einsatzbereitschaft fragte, trotz ihrer Unsicherheit.
    In den letzten Wochen hatte sich Elsas Befinden gebessert. Sie nahm ein neues Schmerzmittel, das stärker war als die vorigen. Es wirkte sehr gut, doch der Arzt hatte vor den Nebenwirkungen gewarnt, vor Benommenheit und motorischer Unsicherheit.
    Martti versetzte diese Aussicht in Aufruhr, er nahm den Arzt beiseite und fragte geradeheraus: »Wie lange noch? Wie viele Wochen?«
    »Denken Sie nicht in Wochen«, entgegnete dieser. »Es gibt gute und schlechte Tage, und bei Krebs ist der Unterschied zwischen ihnen enorm. Mitunter kann Ihre Frau nahezu symptomfrei sein.«
    Damit musste Martti sich zufriedengeben, und so begann er, Elsa noch genauer zu beobachten. Er setzte seine ganze Hoffnung in diese zwei Worte: nahezu symptomfrei.
    Gestern nun wurde das Krankenbett gebracht, dazu die übrige Ausstattung. Schweigsame Männer hatten an der Tür geklingelt und alles in die Wohnung getragen, als handelte es sich um ganz normale Möbel, hatten im Schlafzimmer das Krankenbett aufgestellt. Dann kamen die Infusionen und die Windeln, die in Pappschachteln in der Schlafzimmerecke warteten. Die Medikamente standen in kleinen Dosen auf der Ankleidekommode.
    »Schön!«, rief Elsa vom neuen Bett aus. »Schöner als jedes Hotel, in dem ich gewesen bin.«
    »Gut, dass es dir gefällt.«
    »Aber«, setzte Elsa an und senkte die Stimme, als befürchtete sie, die Männer würden hinter der Wohnungstür lauschen und beleidigt sein, »ich werde trotzdem neben dir schlafen.«
    »Wirklich? Wenn du willst.«
    Elsa sah missbilligend in die Ecke mit den Windeln. »Den Toilettengang werde ich schon noch selber erledigen.« Ihre Stimme klang energisch und heiter.
    »Die sind ja nur für den Notfall«, hörte er sich sagen.
    Die Rolle der Kranken bereitete Elsa Mühe, denn sie war es gewohnt, anderen zu helfen. Schon immer, bis zur Erschöpfung, hatte sie sich um andere gekümmert, wie es sich für eine Psychologin gehörte. Martti erinnerte sich gut an die Zeit, in der Elsa das Mädchenhafte ver­loren und sich in eine unnachgiebige Frau verwandelt hatte; damals schrieb sie an ihrer Doktorarbeit und hatte eine Stelle in einem internationalen Forschungsteam bekommen.
    Martti lag regungslos im Bett. Elsa schlief tief und fest.
    01:25.
    Über ihm schwebte der Traum. Ein aus Zeit gewirktes Gewebe, dicht wie eine Decke. Martti stand auf und trat ans Fenster. In manchen dieser Nächte, wenn ihn der Traum wieder aus dem Schlaf gerissen hatte, lastete die Trauer wie ein großer Stein auf ihm. Ächzend lag er darunter und rang nach Luft. Ich schaffe das nicht, dachte er. Wenn es schon jetzt so schlimm ist, wie wird es erst, wenn Elsa wirklich geht?
    Doch dann fand er endlich eine Methode, sich selbst zu beruhigen. Er trat ans Fenster, öffnete es weit, schaute in den Himmel und lauschte der Amsel. Die Trauer gesellte sich leise zu ihm, und er ließ sie kommen, schloss Bekanntschaft, wie um sich vorsorglich an sie zu gewöhnen. Er entdeckte sie in der Haltung seiner Hände, in den halb ausgestreckten Armen. Der Trauer musste man Raum geben, man musste sie umarmen. Andernfalls über­fiel sie einen als Entsetzen, plötzlich und ohne Vorwarnung, beim Überqueren einer Kreuzung oder im Geschäft
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