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Wahr

Wahr

Titel: Wahr
Autoren: Riikka Pulkkinen
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sprechen.
    Eleonoora öffnete die Augen wieder. Sie besaß die Gabe, willentlich in ihre Träume zurückzugleiten. Sie hätte ihren Blick jetzt auch scharfstellen und die Umrisse des Schlafzimmers entlangfahren können, die Kanten des Nachttisches, die Zahlen des Digitalweckers. Aber sie wollte lieber ihre Mutter sehen, jung und gesund. Sie schloss die Augen.
    Da war wieder der Spielplatz. Da waren wieder ihre klebrigen Hände, von den Erdbeeren, die sie gerade gegessen hatte. An ihren Fußknöcheln scheuerten die ­Lederriemen der roten Sandalen. Sie hatten einen Ausflug auf die Insel Suomenlinna gemacht; im Picknickkorb lagen schmutziges Geschirr und ein übrig geblie­bener, warmer Schokoladenpudding. Eleonoora musste pinkeln. Die hochhackigen Schuhe ihrer Mutter lagen im Sand, ihre Mutter lachte laut. Eleonoora sorgte sich ein wenig, sie dachte: Mama darf man nicht zu viel Schwung holen lassen. Jetzt hatte ihre Mutter kürzeres Haar, dunkleres.
    Sie bremste ab, stand von der Schaukel auf, lächelte. »Hattest du Angst, dass ich davonfliege?«, fragte sie.
    Eleonoora nickte.
    »Mein Mädchen«, sagte ihre Mutter mit zärtlichem Blick. »Hab keine Angst, ich bleibe hier.« Sie bückte sich, um ihre Schuhe anzuziehen.
    Eleonoora sah die blauen Flecke im Nacken ihrer Mutter. Groß, an den Rändern gelblich.
    »Du sollst nicht so hoch schaukeln, wenn du so schlimme blaue Flecken hast«, rügte sie ihre Mutter. Heute erteilte sie ihre Rügen als Erwachsene. Ich muss meine Mutter beschützen, dachte sie. Trotz allem ist sie zerbrechlicher, als sie vorgibt. Bei diesem Gedanken war Eleonoora wieder die Sechsjährige.
    Die Unruhe holte sie aus dem Schlaf. Die Uhr zeigte 01:20. Sie lag regungslos da, neben ihr atmete Eero. In solchen Momenten kam die Panik, die Nacht wurde zu einem tiefen Brunnen. Es war die Panik des Kindes, dieselbe, die sie als Zwölfjährige aus dem Schlaf gerissen hatte, als sie sich im Grenzland zwischen Kindheit und Pubertät abgekämpft hatte. Damals hatte die Panik noch keinen Namen, es war pure, gestaltlose Angst. Jetzt war die Botschaft klar: Bald bin ich ohne Mutter, eine Waise. Das Wort wanderte durch das Zimmer. Die schweren Atemzüge des schlafenden Eero machten es noch bedrohlicher.
    01:21.
    Eleonoora holte tief Luft, wartete.
    01:22.
    Eero drehte sich auf die andere Seite, schlief weiter. Eleonoora stand noch nicht auf. Aber sie hatte Hunger. Genau genommen war es eher ein Gefühl des Mangels – ein Hunger, der schon wochenlang nicht mehr zu stillen war. Neuerdings stieg sie jeden Morgen auf die Waage, bemüht, ihr Gewicht zu halten. Sie hatte sich früh auf die Trauer eingestellt und trauerte auf Vorrat, indem sie einzelne Mahlzeiten vergaß. Der tagtäglich schrumpfende Körper ihrer Mutter ließ auch ihren Appetit schwinden. Vielleicht wollte sie aber auch die Grenzen dieser Phase ausdehnen und absichern helfen, mit Schlafmangel und Appetitlosigkeit einen Teil der mütterlichen Schmerzen schultern.
    Vom Tod wissen die Lebenden nichts, aber das Sterben, dieses allmähliche Vollziehen, drängt sich deutlich in ihre Tage. Die Zeit verlangsamt sich, und die Wirklichkeit bekommt Wände aus Trauer, innerhalb derer der Sterbende und die Seinen ihre inbrünstigen Rituale vollziehen.
    Allen Beteiligten war bei der Pflege eine eigene Rolle zu gedacht. Sie, Eleonoora, bewahrte den Überblick, hielt den Kontakt zum Arzt, zur ambulanten Pflegerin, sorgte dafür, dass alle zu essen bekamen, genug schliefen, an die frische Luft gingen. Ihr Mann Eero verhielt sich loyal und hilfsbereit, war jederzeit ansprechbar. Ihre ältere Tochter Anna beobachtete das Geschehen wie von fern, als würde sie jede noch so kleine Gefühlsregung im Haus penibel protokollieren. Eleonooras Vater Martti war an manchen Tagen von Trauer gezeichnet, an anderen wieder betont heiter, als ginge es hier nicht um den unausweichlichen Tod, sondern mindestens um Sommerferien. Ihre jüngere Tochter Maria nahm furchtlos ihre Pflichten auf sich und fragte ihre Großmutter regelmäßig nach dem Befinden. Ihr Wesen war Krisensituationen gewachsen, sie studierte im zweiten Semester Medizin. Manchmal hatte Eleonoora den Eindruck, ihre Tochter würde eine bessere Ärztin werden als sie selbst.
    Eleonoora war nie so geradeheraus, meist machte sie sich zu viele Sorgen. Im Angesicht der erkrankten Mutter brachen diese sich in Reglements und Imperativen Bahn. Als Kind ließen die Sorgen sich noch in nichts verwandeln, in der Pubertät dann
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