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Wahnsinns Liebe

Wahnsinns Liebe

Titel: Wahnsinns Liebe
Autoren: Lea Singer
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sie sitzenbleiben. Aber Melisandes stilles Sterben wird bereits überdröhnt. Da steht der neben ihr auf und röhrt: »Fünf Minuten! Nur fünf Minuten noch!« Das wirkt. Doch als das Nachspiel noch einmal das Schicksalsmotiv aufnimmt, ist das Schicksal dieses Stückes entschieden.
    Sie bleibt stur sitzen, während die beiden Kriegsparteien an ihr vorbei zum Ausgang drängen und kramt in ihren Vorräten. Jede Frau eines Genies besitzt so eine Kiste mit tröstenden Worten. Und je größer, also je unverstandener das Genie ist, um so größer muß auch die Kiste sein.
    |29| Der Saal hat sich vollständig geleert, als sie endlich in Richtung Bühneneingang geht. Ihr Nachbar von drin steht bereits dort in der naßkalten Januarnacht. Offenbar will er sich ein Autogramm holen, er hält das Programm in der Hand. In dieser Sekunde kommt Schönberg mit seinem Konzertmeister aus der Tür.
    Der Kerl tritt ihm in den Weg und scheint etwas zu fragen. Er ist einen ganzen Kopf größer als der Komponist. Der hebt das Gesicht zu ihm, sagt irgend etwas Unwirsches, gibt ihm aber seine Karte. Der neue Verehrer dreht sich um, sieht die blasse kleine Frau mit dem hochgesteckten Haar, die fröstelnd wartet, und sieht ihr im Licht der Laterne in die Augen. »Sind Sie seine Frau?« Er schielt, nicht stark, aber trotz des schlechten Lichts unübersehbar.
    »Ja«, sagte sie.
    »Kein leichter Beruf«, sagte er und lächelt.
    Auf einmal ist ihr heiß.

    Die beiden sitzen reglos da, eng nebeneinander. Zwei verschreckte weiße Tauben mit steifem Gefieder. Die eine starrt ihn an, die andere versucht, ihn gar nicht wahrzunehmen, und hat die Lider herabgelassen.
    »Was haben Sie da für ein riesiges Ding? Das sieht ja bedrohlich aus«, sagt die mit den aufgerissenen Augen, die jüngere.
    »Laß ihn«, flüstert, ohne sich zu bewegen, die ältere. »Der Vater hat doch gesagt, er sei … eigenartig.«
    Der große Mann mit dem kurzgeschorenen Haar |30| schaut auf die beiden, ohne sie anzublicken. Wie sie wohl nackt aussehen? Ob sie schlank oder dicklich sind? Ob ihre Schenkel fest sind oder weich? Beide wirken so körperlos in ihren Kleidern, daß sogar eine Mutmaßung unmöglich ist.
    »Ich habe mir«, sagt er, »diesen extralangen Pinsel machen lassen, weil ich damit genügend Abstand zum Bild habe. Ich kann während des Malens bereits die Wirkung überprüfen.«
    Ohne zu reden, arbeitet er weiter, schnell, fiebrig. Er weiß, daß sie in seinem Alter sind, die eine ist dreiundzwanzig, die andere vierundzwanzig. Aber da ist nichts von jugendlicher Kraft zu spüren.
    Auch die Gesichter sind wie abgestorben. Was hat sie ausgetrocknet, Langweile? Die gefahrlose Zufriedenheit ihres Daseins als Töchter aus reichem Haus? Er spürt, während er malt, wie seine Lust wächst, den beiden einen Stachel ins Fleisch zu stoßen. Er würde sie gerne kreischen hören. Das wäre wenigstens ein Lebenszeichen.
    »Warum lächeln Sie? Lachen Sie uns aus?« Pauline, die jüngere, redet, ohne den Mund zu bewegen. Münder – nein, Lippen haben die beiden kaum. Es sind mehr Schlitze, die unter der Nase ins Gesicht geschnitten worden sind. Mundtot scheinen sie. Aber wer hat den Mund getötet? Wahrscheinlich der Vater, Sekretär der k. k. privaten Riunione Adriatica di Sicuritá. Für die ältere, Karoline Adele, wird noch dringend ein Mann gesucht. Doch deswegen ist er wohl kaum gebeten worden, ein Doppelporträt der Schwestern in ihren Ballkleidern zu malen. Gut, auch sein Vater ist vermögend, aber verglichen mit dieser Döblinger Villa der Familie Fey – Säulenportikus vorn und Pavillon hinten, |31| Foyer, Salon, Ballsaal und Wintergarten – ist sein Zuhause in der Nußdorferstraße, eine dunkle Etagenwohnung, alles andere als eindrucksvoll. Und ausgerechnet einen Maler sucht sich selbst ein verzweifelter Vater nicht freiwillig als Schwiegersohn aus. Zumindest nicht einen wie ihn, der als sonderbar und aufsässig gilt und keinerlei Erfolge vorweisen kann.
    »Was ist denn Ihr liebstes Kaffeehaus?« fragt Pauline. »Das Imperial, das Museum, das Central oder der Herrenhof oder …?«
    »Das Griensteidl.« Mit harten Strichen vertreibt er die Farbe der Kleider ganz dünn.
    Paulines Stimme schlingert. »Aber das gibt es doch längst nicht mehr.«
    »Genau«, sagt er und betrachtet zufrieden das Gemälde: Die Kleider der beiden jungen Frauen sind nur noch fahle schmutzigweiße Flächen. Starre dünne Panzer.
    »Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie nie ins Kaffeehaus
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