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Voyeur

Titel: Voyeur
Autoren: Simon Beckett
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durch die Fenster und versuchte, Anna
     zu erkennen und meine Nerven zu beruhigen, bevor ich hineinging, hatte aber mit beidem keinen Erfolg. Ich holte tief Luft
     und öffnete die Tür.
    Sofort wurde mir von einem spindeldürren jungen Mann in einem weiten Pullover ein Glas Wein in die Hand gedrückt. Der Wein
     stammte offensichtlich aus einem billigen Tetrapack, doch ich nahm ihn dankbar an und sah mich nach Anna um. Sie war nirgends
     zu sehen. Ich schaute auf meine Uhr. Es war noch nicht ganz acht, und während sich in mir Enttäuschung mit Erleichterung
     vermischte, wandte ich meine Aufmerksamkeit der Ausstellung zu.
    Die Schmierereien waren noch amateurhafter, als ich befürchtet hatte. Selbst auf hohem Niveau habe ich nichts für abstrakte
     Kunst übrig, und davon waren diese Machwerke meilenweit entfernt. Ich erkannte einen Kritiker in der Menge, und der Blick,
     den er mir zuwarf, bestätigte meine Meinung. Die meisten Gäste schienen hauptsächlich an dem gratis ausgeschenkten Wein interessiert
     zu sein, was ich ihnen nicht verübeln konnte. Ich überlegte gerade, ob ich mir noch ein zweites Glas genehmigen sollte,
     als ich hinter mir Annas Stimme hörte.
    «Hallo. Sind Sie schon lange hier?»
    Überrascht und aufgeregt drehte ich mich um. «Nein, nein. Ich bin gerade gekommen.»
    |31| Ich sog ihr Parfüm ein. Sie trug noch ihren Mantel und hatte einen Schal um den Hals gewickelt. Ihr Gesicht war von der Kälte
     gerötet. «Entschuldigen Sie, dass wir erst jetzt kommen. Die U-Bahn hatte wieder Verspätung, und wir konnten kein Taxi kriegen. Wir sind von der Station zu Fuß gegangen.» Sie trat einen Schritt
     zur Seite. «Marty haben Sie noch nicht kennengelernt, oder?»
    Mir war zwar aufgefallen, dass jemand direkt hinter ihr stand, aber nur am Rande. Er war meiner Vorstellung von Marty so
     unähnlich, dass ich ihm keine Beachtung geschenkt hatte. Als er nun einen Schritt vortrat und seine Hand ausstreckte, war
     ich derart geschockt, dass ich kaum reagieren konnte.
    Der große, gutaussehende Marty meiner Phantasie existierte nicht. Die Kreatur, die Anna mir vorstellte, war klein, schmächtig
     und gnomenhaft. Die Kleidung schlotterte um seine dürre Gestalt, eine Hornbrille ließ die Augen in dem schmalen Gesicht überproportional
     groß erscheinen. Sein Haar war ungekämmt und straßenköterblond, was das Bild eines stubenhockenden Schuljungen vervollständigte.
    Während ich ihm die Hand gab, rang ich mir ein Lächeln ab. «Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich habe schon viel von Ihnen
     gehört.»
    «Gutes oder Schlechtes?» Sein amerikanischer Akzent war relativ dezent. Aber seine Nationalität war mittlerweile das geringste
     Übel.
    Ich erholte mich von meinem anfänglichen Schock. «Oh, keine Sorge. Nur Gutes natürlich.»
    «Ich habe ihm nur von deinen guten Seiten erzählt», sagte Anna. Die beiden lächelten sich an.
    |32| «Gib mir deinen Mantel, ich werde irgendwo einen Platz dafür finden», sagte er. «Möchten Sie noch ein Glas Wein, Mr.   Ramsey?»
    Ich hatte das Gefühl, einen zu brauchen. «Wenn es keine Umstände macht.» Ich biss die Zähne zusammen. «Und sagen Sie doch
     Donald zu mir.»
    Marty nahm Annas Mantel und verschwand in der Menge. Er stach in keiner Weise daraus hervor.
    «Und, was denken Sie?», fragte Anna. Ich schaute sie verwirrt an.
    «Entschuldigung?»
    «Die Ausstellung. Hatten Sie schon Gelegenheit, sich die Bilder anzuschauen?»
    Für einen Moment hatte ich gedacht, sie wollte meine Meinung über ihren Freund hören. «Alle habe ich noch nicht gesehen»,
     antwortete ich ausweichend.
    «Ach, da ist ja Teresa», sagte Anna und schaute an mir vorbei. «Sie ist die Künstlerin. Ich gehe schnell zu ihr und begrüße
     sie. Soll ich Sie vorstellen?»
    Mir fiel kaum etwas ein, was ich weniger wollte. Aber so blieb ich immerhin in Annas Nähe. «Ja, gerne.»
    Teresa war ein dünne, angespannte Frau, die vollständig in Schwarz gekleidet war. Ihr Augen-Make-up war beinahe so beängstigend
     wie ihre Kunst. Um Annas willen gab ich mir alle Mühe, ermutigend zu klingen, ohne mich festzulegen. Wenige Augenblicke
     später gesellte sich Marty zu uns. Dann erreichte der Abend seinen Tiefpunkt, denn die Künstlerin bestand darauf, uns persönlich
     durch die Ausstellung zu führen, und erläuterte ihre Absichten und Methoden in zermürbenden Einzelheiten. Doch da mittlerweile
     ein starker |33| Widerwille beim Anblick von Marty in mir aufkam, war ich froh, dass die junge
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