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Vorsatz und Begierde (German Edition)

Vorsatz und Begierde (German Edition)

Titel: Vorsatz und Begierde (German Edition)
Autoren: P. D. James
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auch die vertrauten Gegenstände der äußeren Welt waren nicht mehr real. Alices Rollsekretär, der Küchentisch, die hochlehnigen Rohrsessel, die Reihen der blitzblanken Pfannen, die Herde – das alles wirkte so substanzlos, als würde es sich bei der geringsten Berührung auflösen. Sie merkte, daß die Küche, in der ihr Blick umherwanderte, inzwischen leer war. Alice war hinausgegangen. Ein wenig erschöpft lehnte sie sich zurück und schloß die Augen. Als sie sie wieder öffnete, sah sie Alices Gesicht über sich gebeugt, riesengroß, fast wie ein Mond. Sie reichte Meg ein großes Glas. »Das ist Whisky«, erklärte sie Meg. »Trink nur, du kannst es gebrauchen.«
    »Nein, Alice, ich kann nicht. Wirklich nicht. Du weißt, wie sehr ich Whisky hasse. Mir wird hundeelend davon.«
    »Von dem hier wird dir nicht übel werden. Es gibt Momente, in denen ist Whisky die einzig mögliche Medizin. Und dieser hier gehört dazu. Trink nur, Meg, trink!«
    Meg merkte, wie ihre Knie zitterten; gleichzeitig stiegen ihr wie brennende, schmerzende Fontänen Tränen in die Augen und begannen ihr ungehindert, ein salziger Strom, über die Wangen und den Mund zu rinnen. Dies kann nicht wirklich geschehen, dachte sie. Es kann nicht wahr sein. Aber genauso hatte sie sich gefühlt, als Miss Mortimer sie aus der Klasse holte, sie im Wohnzimmer der Direktorin fürsorglich auf einen Stuhl ihr gegenüber dirigiert und ihr die Nachricht von Martins Tod mitgeteilt hatte. Das Undenkbare mußte gedacht, das Unglaubliche geglaubt werden. Worte bedeuteten noch immer, was sie stets bedeutet hatten: Mord, Tod, Kummer, Schmerz. Sie sah, wie sich Miss Mortimers Mund bewegte, die seltsam unzusammenhängenden Phrasen herausdrängten wie die Sprechblasen in einem Comic, sie bemerkte wieder, daß die Direktorin sich vor diesem Gespräch den Lippenstift abgewischt haben mußte. Vielleicht hatte sie sich gedacht, daß nur nackte Lippen eine so furchtbare Mitteilung hervorbringen könnten. Wieder sah sie diese rastlosen Fleischwülste, entdeckte wieder, daß der oberste Knopf von Miss Mortimers Cardigan nur noch an einem Faden hing, und hörte sich wörtlich sagen: »Miss Mortimer, Sie verlieren einen Knopf.«
    Sie schloß die Finger um das Glas. Es schien ihr unendlich groß geworden zu sein, so schwer wie Blei, und der Whiskygeruch drehte ihr fast den Magen um. Aber sie vermochte keinen Widerstand mehr zu leisten. Langsam hob sie es an den Mund. Sie war sich bewußt, daß Alices Gesicht noch immer sehr nah war, daß Alices Augen sie beobachteten. Sie trank den ersten kleinen Schluck und wollte gerade den Kopf zurücklegen und alles in sich hineinschütten, als ihr sanft, aber energisch das Glas aus den Händen genommen wurde und sie Alice sagen hörte: »Du hast ganz recht, Meg, Whisky war nie so recht dein Getränk. Ich werde jetzt für uns beide Kaffee machen und dich dann bis zum Alten Pfarrhof begleiten.«
    Fünfzehn Minuten später half Meg die Kaffeebecher abwaschen, als sei dies das Ende eines ganz normalen Abends. Dann machten sie sich gemeinsam auf den Weg über die Landzunge. Sie hatten den Wind im Rücken, und es schien Meg, als flögen sie fast durch die Luft, als berührten ihre Füße kaum den Boden, als seien sie Hexen. An der Tür des Pfarrhauses erkundigte sich Alice: »Was wirst du heute abend tun, Meg? Für mich beten?«
    »Ich werde für uns beide beten.«
    »Solange du von mir nicht erwartest, daß ich bereue. Ich bin nicht religiös, wie du weißt, und mir bedeutet das Wort nichts, es sei denn das Bedauern darüber, daß etwas, was wir getan haben, weniger positiv für uns ausgegangen ist, als wir es uns erhofft hatten. Wenn ich diese Definition zugrunde lege, habe ich wenig zu bedauern, höchstens das Pech, daß du, meine liebe Meg, ein so schlechter Automechaniker bist.«
    Und dann, scheinbar spontan, packte sie Meg an den Armen. So fest war ihr Griff, daß es sehr weh tat. Sekundenlang dachte Meg, Alice werde sie nun küssen, aber ihr Griff lockerte sich, und ihre Hände fielen herab. Nach einem kurzen Gutenachtgruß wandte sie sich wortlos ab.
    Während Meg den Schlüssel ins Schloß schob und die Tür aufstieß, drehte sie sich noch einmal um, aber Alice war bereits in der Dunkelheit verschwunden, und das heftige Weinen, das sie einen Moment lang ungläubig für das einer verzweifelten Frau gehalten hatte, war nur der Wind.

53
    Als Dalgliesh gerade mit dem Sortieren der letzten Papiere seiner Tante fertig geworden war,
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