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Vorn

Titel: Vorn
Autoren: Andreas Bernard
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immergleichen journalistischen Reaktionen auf neue Platten und Filme, die halbjährlich wiederkehrenden
     Sonderhefte über Essen oder Mode, der obligatorische Rückblick zum Jahresende. Dennis hatte erst kürzlich das Angebot eines
     anderen Magazins mit den Worten abgelehnt: »Ich glaube, es gibt da noch ein paar Texte, die ich unbedingt ins
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reinschreiben muss.« Für Tobias galt das nicht mehr. Er kündigte nach einem Gespräch mit Thomas seinen Vertrag, und an einem
     Abend Ende Juli fand eine kleine Feier für ihn statt, in der Mio Bar gleich neben der Redaktion, in der sich die
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Leute auch häufig zum Mittagessen trafen. Thomas hielt eine kurze Rede, Ludwig eine etwas längere, und unter den Abschiedsgeschenken
     befand sich, wie es im
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schon Tradition hatte, auch ein großformatiger Ausdruck jener Geschichte, die man mit dem ehemaligen Redakteur am stärksten
     in Verbindung brachte. Tobias wurde die gerahmte Doppelseite mit den Jubelposen der Bundesligaspieler überreicht, die er damals
     zusammen mit Dennis und Robert auf dem Fußballplatz seines alten Vereins nachgestellt hatte.
     
    |225| Als Tobias an diesem Abend nach Hause kam, vollgepackt mit Geschenken und dem riesigen Poster, spürte er zum ersten Mal seit
     längerer Zeit wieder Sehnsucht nach Emily. Er hätte gerne mit ihr telefoniert, ihr von dieser Feier und seinem Weggang vom
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Magazin erzählt. Ohnehin kehrte seine Trauer vor allem in solchen Momenten noch mit aller Kraft zurück: Wenn er bei besonderen
     Gelegenheiten – nach der Rückkehr von einer Reise, nach einer beruflichen Entscheidung oder einer wichtigen Nachricht im Fernsehen
     – niemanden mehr hatte, den er sofort anrufen konnte. War das nicht eine der schönsten Selbstverständlichkeiten zwischen ihnen
     gewesen, dass sie mehrmals am Tag miteinander telefonierten? Mit dem gemeinsamen Besprechen hatte ein Ereignis oder eine Veränderung
     erst wirklich stattgefunden. (So eingespielt war dieses Ritual, dass er nach den ersten Begegnungen mit Sarah damals sogar
     ein- oder zweimal reflexhaft gedacht hatte: »Das muss ich gleich Emily am Telefon erzählen.«) Die schmerzliche Lücke der regelmäßigen
     Anrufe empfand Tobias noch sehr lange, auch Jahre nachdem er sich schon wieder zurechtgefunden hatte. Besonders jäh wurde
     sie ihm noch einmal am 11. September 2001 bewusst, in der Redaktion, in der er inzwischen arbeitete. Gleich nach den ersten Meldungen, die alle gemeinsam vor
     dem Fernseher im Konferenzbereich verfolgten, liefen die meisten seiner Kollegen zurück in ihre Büros, um mit ihren Freundinnen,
     Ehefrauen oder Ehemännern zu telefonieren. Nur manche blickten weiter gebannt auf den Bildschirm mit den endlos wiederholten
     Aufnahmen der Einschläge; es waren jene Redakteure, die gerade niemanden hatten. Natürlich hätte Tobias auch einen seiner |226| Freunde anrufen können, hätte ihn – wie die anderen in ihren Büros – ohne Begrüßung sofort aufgefordert, den Fernseher einzuschalten.
     Aber das wäre ihm fast indiskret vorgekommen, wie die Inanspruchnahme eines Vorrechts, das allein für die Freundin reserviert
     war.
     
    Eine Woche nach Tobias’ Verabschiedung fand in einem stillgelegten Fabrikgebäude die große »Fünf Jahre
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«-Party statt. Die Redaktion hatte zu diesem Jubiläum sogar ein Sonderheft produziert, das letzte
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- Magazin, an dem Tobias als Redakteur beteiligt war. Offiziell wurde die Ausgabe zwar erst am Montag darauf veröffentlicht;
     auf dem Partygelände aber lagen schon überall Stapel mit der Jubiläumsnummer aus. Die Autoren blickten in diesem Heft auf
     die Zeit seit dem Erscheinen des ersten
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- Magazins zurück, schrieben über das Aufkommen von Handy und E-Mail oder die kurzen Karrieren von Drum & Bass, Ecstasy und
     der Girlie-Bewegung. Bebildert war die Ausgabe mit den Lieblingsfotos der Redakteure aus den Heften der vergangenen fünf Jahre.
     Das alte Fabrikgebäude, mitten im Englischen Garten, war von den Marketing-Leuten im
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als Partyort entdeckt worden. »Das ist echt eine Wahnsinns-Location«, hatte ihm eine der Anzeigenverkäuferinnen schon Wochen
     zuvor in der Redaktion erzählt, und Tobias musste an Robert Veith denken, der sicher sofort gesagt hätte: »Das heißt ›venue‹
     und nicht ›location‹! Eine ›location‹ ist allenfalls ein Drehort beim Film.« »Location« gehörte in der besonders aufgeheizten
     Zeit beim
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, in der »stalinistischen Phase«, wie die Jüngeren
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